Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_037.001 Jn dieser ethischen Wirkung der Furcht als einer Katharsis liegt auch pmu_037.009 Spielerisch wird die Furcht Motiv in der Gruselpoesie, die neuerdings pmu_037.012 Auch in aggressiver Weise kann sich der Selbsterhaltungstrieb äußern pmu_037.015 So gibt es Dichter, deren Leben und Dichten ein einziger Kampf ist. pmu_037.021 Es muß natürlich betont werden, daß bei den großen Künstlern dieses pmu_037.035 Der Affekt, den wir als Sympathie oder Zuneigung bezeichnen, pmu_037.001 Jn dieser ethischen Wirkung der Furcht als einer Katharsis liegt auch pmu_037.009 Spielerisch wird die Furcht Motiv in der Gruselpoesie, die neuerdings pmu_037.012 Auch in aggressiver Weise kann sich der Selbsterhaltungstrieb äußern pmu_037.015 So gibt es Dichter, deren Leben und Dichten ein einziger Kampf ist. pmu_037.021 Es muß natürlich betont werden, daß bei den großen Künstlern dieses pmu_037.035 Der Affekt, den wir als Sympathie oder Zuneigung bezeichnen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0047" n="37"/><lb n="pmu_037.001"/> Chorliedern an, über die Sündenklagen des Mittelalters hinweg bis zu <lb n="pmu_037.002"/> Hyperions Schicksalslied und Dostojewskis düsteren Slawenevangelien <lb n="pmu_037.003"/> hin, überall ist die Furcht das Motiv der dichterischen Aussprache, eine <lb n="pmu_037.004"/> Furcht aber, die sich durch die Demütigung gleichsam selber aufhebt und <lb n="pmu_037.005"/> Erlösung findet. Das ist auch der tiefste ethische Sinn aller Schicksalspoesie <lb n="pmu_037.006"/> vom Ödipus des Sophokles an bis zu den Werken des frühen <lb n="pmu_037.007"/> Maeterlinck.</p> <lb n="pmu_037.008"/> <p> Jn dieser ethischen Wirkung der Furcht als einer Katharsis liegt auch <lb n="pmu_037.009"/> die Bedeutung der Furcht in ihrer Wirkung auf den Leser oder Zuschauer <lb n="pmu_037.010"/> der Tragödie.</p> <lb n="pmu_037.011"/> <p> Spielerisch wird die Furcht Motiv in der Gruselpoesie, die neuerdings <lb n="pmu_037.012"/> im Anschluß an E. Th. A. Hoffmann und E. A. Poe ins Kraut geschossen ist. <lb n="pmu_037.013"/> Hier begleitet den Furchtinstinkt das Unterbewußtsein, daß alles Spiel ist.</p> <lb n="pmu_037.014"/> <p> Auch in aggressiver Weise kann sich der Selbsterhaltungstrieb äußern <lb n="pmu_037.015"/> als <hi rendition="#g">Haß</hi> oder <hi rendition="#g">Zorn.</hi> Es ist besonders die Form der Satire, in der die <lb n="pmu_037.016"/> Dichter ihren Jngrimm auszugießen pflegen. Da das Gelächter, dem man <lb n="pmu_037.017"/> den Feind aussetzt, die gefährlichste Waffe ist, so wählt man mit Vorliebe <lb n="pmu_037.018"/> diese. Aber oft schlagen die Dichter auch mit der Keule der offenen Wut <lb n="pmu_037.019"/> darein.</p> <lb n="pmu_037.020"/> <p> So gibt es Dichter, deren Leben und Dichten ein einziger Kampf ist. <lb n="pmu_037.021"/> So ist die Aristophaneische Komödie ein erbitterter Kampf gegen die politischen <lb n="pmu_037.022"/> Mißstände und alles, was dem Dichter auf poetischem und philosophischem <lb n="pmu_037.023"/> Gebiete hassenswert erschien. Jn unsrer Zeit wäre aus Gründen <lb n="pmu_037.024"/> polizeilicher Gefährdung eine solche Offenheit der Polemik nicht mehr <lb n="pmu_037.025"/> möglich, wenigstens nicht auf der Bühne. So haben sich Zorn und Haß <lb n="pmu_037.026"/> oft verkleiden müssen in harmlosere Gewänder. Trotzdem fehlte es auch <lb n="pmu_037.027"/> in neueren Zeiten nicht an starken Hassern. Die französische Literatur ist <lb n="pmu_037.028"/> vielleicht besonders reich an satirischen Begabungen, und ganz große Namen <lb n="pmu_037.029"/> wie Rabelais, Moli<hi rendition="#aq">è</hi>re, Voltaire bis auf A. France herab sind da <lb n="pmu_037.030"/> zu nennen. Ein besonders extremer Fall ist Strindberg, bei dem alle Gefühle <lb n="pmu_037.031"/> fast einen aggressiven Charakter tragen und der manchmal von wahrem <lb n="pmu_037.032"/> Negativismus beseelt erscheint. Aber auch Jbsen in vielen seiner <lb n="pmu_037.033"/> Werke würde hierher gehören, wie neuerdings auch Bernard Shaw.</p> <lb n="pmu_037.034"/> <p> Es muß natürlich betont werden, daß bei den großen Künstlern dieses <lb n="pmu_037.035"/> Typus der Haß nicht etwas rein Negatives bleibt. Vielmehr steht hinter <lb n="pmu_037.036"/> dem Satiriker sehr oft ein hoher Jdealismus, der sich nur in dieser verneinenden <lb n="pmu_037.037"/> Form ausspricht.</p> <lb n="pmu_037.038"/> <p> Der Affekt, den wir als <hi rendition="#g">Sympathie oder Zuneigung</hi> bezeichnen, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [37/0047]
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Chorliedern an, über die Sündenklagen des Mittelalters hinweg bis zu pmu_037.002
Hyperions Schicksalslied und Dostojewskis düsteren Slawenevangelien pmu_037.003
hin, überall ist die Furcht das Motiv der dichterischen Aussprache, eine pmu_037.004
Furcht aber, die sich durch die Demütigung gleichsam selber aufhebt und pmu_037.005
Erlösung findet. Das ist auch der tiefste ethische Sinn aller Schicksalspoesie pmu_037.006
vom Ödipus des Sophokles an bis zu den Werken des frühen pmu_037.007
Maeterlinck.
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Jn dieser ethischen Wirkung der Furcht als einer Katharsis liegt auch pmu_037.009
die Bedeutung der Furcht in ihrer Wirkung auf den Leser oder Zuschauer pmu_037.010
der Tragödie.
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Spielerisch wird die Furcht Motiv in der Gruselpoesie, die neuerdings pmu_037.012
im Anschluß an E. Th. A. Hoffmann und E. A. Poe ins Kraut geschossen ist. pmu_037.013
Hier begleitet den Furchtinstinkt das Unterbewußtsein, daß alles Spiel ist.
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Auch in aggressiver Weise kann sich der Selbsterhaltungstrieb äußern pmu_037.015
als Haß oder Zorn. Es ist besonders die Form der Satire, in der die pmu_037.016
Dichter ihren Jngrimm auszugießen pflegen. Da das Gelächter, dem man pmu_037.017
den Feind aussetzt, die gefährlichste Waffe ist, so wählt man mit Vorliebe pmu_037.018
diese. Aber oft schlagen die Dichter auch mit der Keule der offenen Wut pmu_037.019
darein.
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So gibt es Dichter, deren Leben und Dichten ein einziger Kampf ist. pmu_037.021
So ist die Aristophaneische Komödie ein erbitterter Kampf gegen die politischen pmu_037.022
Mißstände und alles, was dem Dichter auf poetischem und philosophischem pmu_037.023
Gebiete hassenswert erschien. Jn unsrer Zeit wäre aus Gründen pmu_037.024
polizeilicher Gefährdung eine solche Offenheit der Polemik nicht mehr pmu_037.025
möglich, wenigstens nicht auf der Bühne. So haben sich Zorn und Haß pmu_037.026
oft verkleiden müssen in harmlosere Gewänder. Trotzdem fehlte es auch pmu_037.027
in neueren Zeiten nicht an starken Hassern. Die französische Literatur ist pmu_037.028
vielleicht besonders reich an satirischen Begabungen, und ganz große Namen pmu_037.029
wie Rabelais, Molière, Voltaire bis auf A. France herab sind da pmu_037.030
zu nennen. Ein besonders extremer Fall ist Strindberg, bei dem alle Gefühle pmu_037.031
fast einen aggressiven Charakter tragen und der manchmal von wahrem pmu_037.032
Negativismus beseelt erscheint. Aber auch Jbsen in vielen seiner pmu_037.033
Werke würde hierher gehören, wie neuerdings auch Bernard Shaw.
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Es muß natürlich betont werden, daß bei den großen Künstlern dieses pmu_037.035
Typus der Haß nicht etwas rein Negatives bleibt. Vielmehr steht hinter pmu_037.036
dem Satiriker sehr oft ein hoher Jdealismus, der sich nur in dieser verneinenden pmu_037.037
Form ausspricht.
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Der Affekt, den wir als Sympathie oder Zuneigung bezeichnen,
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