Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_044.001 Nun liegt es in der Natur der Sache, daß Kunstschaffen und Kunstgenießen pmu_044.002 Man hat nun neuerdings, um das Wesen des künstlerischen Genießens pmu_044.016 2. Jch ziehe darum, um den psychologischen Vorgang des Aufnehmens pmu_044.025 Der andre Typus ist der bedeutend objektivere und entspricht dem pmu_044.001 Nun liegt es in der Natur der Sache, daß Kunstschaffen und Kunstgenießen pmu_044.002 Man hat nun neuerdings, um das Wesen des künstlerischen Genießens pmu_044.016 2. Jch ziehe darum, um den psychologischen Vorgang des Aufnehmens pmu_044.025 Der andre Typus ist der bedeutend objektivere und entspricht dem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0054" n="44"/> <lb n="pmu_044.001"/> <p> Nun liegt es in der Natur der Sache, daß Kunstschaffen und Kunstgenießen <lb n="pmu_044.002"/> sich vielfach entsprechen, da das Kunstgenießen ein <hi rendition="#g">Nacherleben</hi> <lb n="pmu_044.003"/> oder <hi rendition="#g">Miterleben</hi> des Geschaffenen darstellt. Wenn man zuweilen gesagt <lb n="pmu_044.004"/> hat, daß das Kunstgenießen ein Nacherleben des poetischen Schöpfungsaktes <lb n="pmu_044.005"/> sei, ein Nach<hi rendition="#g">schaffen,</hi> so hat eine solche Behauptung nur aus <lb n="pmu_044.006"/> völliger Unkenntnis des Schaffensprozesses entstehen können, und eine <lb n="pmu_044.007"/> dahingehende Forderung stellt eine völlige Unmöglichkeit dar, da auch <lb n="pmu_044.008"/> dort, wo wir noch am vollständigsten über den Schaffensakt unterrichtet <lb n="pmu_044.009"/> sind, doch die Dunkelheit das Licht weit überwiegt und ein Nachschaffen <lb n="pmu_044.010"/> in irgendeinem Sinne völlig ausgeschlossen ist. Also nicht um ein <hi rendition="#g">Nachschaffen</hi> <lb n="pmu_044.011"/> handelt es sich, sondern um das <hi rendition="#g">Nacherleben des Geschaffenen,</hi> <lb n="pmu_044.012"/> der fertig im Kunstwerk dargebotenen Geschehnisse, Gefühle <lb n="pmu_044.013"/> usw., deren Belebung ein wesentlich andrer Vorgang ist als die schöpferische <lb n="pmu_044.014"/> Leistung des Dichters.</p> <lb n="pmu_044.015"/> <p> Man hat nun neuerdings, um das Wesen des künstlerischen Genießens <lb n="pmu_044.016"/> zu kennzeichnen, den Ausdruck „Einfühlung“ geprägt, der, obwohl die <lb n="pmu_044.017"/> dadurch bezeichneten Tatsachen von größter Wichtigkeit sind, aus verschiedenen <lb n="pmu_044.018"/> Gründen mir nicht geschickt gewählt scheint. Jch erwähne davon <lb n="pmu_044.019"/> nur, daß es einerseits mit dem Fühlen allein nicht getan ist, sondern daß <lb n="pmu_044.020"/> noch eine Menge andrer psychischer Funktionen in Betracht kommt, andrerseits <lb n="pmu_044.021"/> findet in vielen Fällen, wie ich gleich zeigen werde, eine Hineinversetzung <lb n="pmu_044.022"/> in die Gestalten des Dichters im Sinne jener Theorie überhaupt <lb n="pmu_044.023"/> nicht oder nur in sekundärer Weise statt.</p> <lb n="pmu_044.024"/> </div> <div n="3"> <p> 2. Jch ziehe darum, um den psychologischen Vorgang des Aufnehmens <lb n="pmu_044.025"/> einer Dichtung zu bezeichnen, den weiteren Ausdruck <hi rendition="#g">Miterleben</hi> vor. <lb n="pmu_044.026"/> Dieses Miterleben nun kann ganz verschiedener Natur sein, und wir werden <lb n="pmu_044.027"/> auch hier zwei Extremtypen kennzeichnen, die zwar in ziemlicher Reinheit <lb n="pmu_044.028"/> beide vorkommen, zwischen denen jedoch das gewöhnliche Kunstgenießen <lb n="pmu_044.029"/> meist in der Mitte liegt. Und zwar entsprechen diesen Typen des <lb n="pmu_044.030"/> Genießens zwei des Schaffens, die wir oben kennzeichneten. Wie dort <lb n="pmu_044.031"/> der „Ausdrucksdichter“ stets nur seine Zustände auszudrücken strebte, so <lb n="pmu_044.032"/> gibt es solche Kunstgenießenden, deren Kunstgenießen in einem möglichst <lb n="pmu_044.033"/> intensiven Nacherleben der ausgesprochenen und dargestellten Gefühle <lb n="pmu_044.034"/> und Erlebnisse besteht. Sie versetzen sich in eine oder mehrere Personen <lb n="pmu_044.035"/> des Dramas oder Romans hinein, erleben alles gleichsam aus diesen Gestalten <lb n="pmu_044.036"/> heraus und spielen von deren Standpunkt aus das ganze Drama <lb n="pmu_044.037"/> mit. Jch nenne diesen Typus darum den <hi rendition="#g">Mitspieler.</hi></p> <lb n="pmu_044.038"/> <p> Der andre Typus ist der bedeutend objektivere und entspricht dem </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [44/0054]
pmu_044.001
Nun liegt es in der Natur der Sache, daß Kunstschaffen und Kunstgenießen pmu_044.002
sich vielfach entsprechen, da das Kunstgenießen ein Nacherleben pmu_044.003
oder Miterleben des Geschaffenen darstellt. Wenn man zuweilen gesagt pmu_044.004
hat, daß das Kunstgenießen ein Nacherleben des poetischen Schöpfungsaktes pmu_044.005
sei, ein Nachschaffen, so hat eine solche Behauptung nur aus pmu_044.006
völliger Unkenntnis des Schaffensprozesses entstehen können, und eine pmu_044.007
dahingehende Forderung stellt eine völlige Unmöglichkeit dar, da auch pmu_044.008
dort, wo wir noch am vollständigsten über den Schaffensakt unterrichtet pmu_044.009
sind, doch die Dunkelheit das Licht weit überwiegt und ein Nachschaffen pmu_044.010
in irgendeinem Sinne völlig ausgeschlossen ist. Also nicht um ein Nachschaffen pmu_044.011
handelt es sich, sondern um das Nacherleben des Geschaffenen, pmu_044.012
der fertig im Kunstwerk dargebotenen Geschehnisse, Gefühle pmu_044.013
usw., deren Belebung ein wesentlich andrer Vorgang ist als die schöpferische pmu_044.014
Leistung des Dichters.
pmu_044.015
Man hat nun neuerdings, um das Wesen des künstlerischen Genießens pmu_044.016
zu kennzeichnen, den Ausdruck „Einfühlung“ geprägt, der, obwohl die pmu_044.017
dadurch bezeichneten Tatsachen von größter Wichtigkeit sind, aus verschiedenen pmu_044.018
Gründen mir nicht geschickt gewählt scheint. Jch erwähne davon pmu_044.019
nur, daß es einerseits mit dem Fühlen allein nicht getan ist, sondern daß pmu_044.020
noch eine Menge andrer psychischer Funktionen in Betracht kommt, andrerseits pmu_044.021
findet in vielen Fällen, wie ich gleich zeigen werde, eine Hineinversetzung pmu_044.022
in die Gestalten des Dichters im Sinne jener Theorie überhaupt pmu_044.023
nicht oder nur in sekundärer Weise statt.
pmu_044.024
2. Jch ziehe darum, um den psychologischen Vorgang des Aufnehmens pmu_044.025
einer Dichtung zu bezeichnen, den weiteren Ausdruck Miterleben vor. pmu_044.026
Dieses Miterleben nun kann ganz verschiedener Natur sein, und wir werden pmu_044.027
auch hier zwei Extremtypen kennzeichnen, die zwar in ziemlicher Reinheit pmu_044.028
beide vorkommen, zwischen denen jedoch das gewöhnliche Kunstgenießen pmu_044.029
meist in der Mitte liegt. Und zwar entsprechen diesen Typen des pmu_044.030
Genießens zwei des Schaffens, die wir oben kennzeichneten. Wie dort pmu_044.031
der „Ausdrucksdichter“ stets nur seine Zustände auszudrücken strebte, so pmu_044.032
gibt es solche Kunstgenießenden, deren Kunstgenießen in einem möglichst pmu_044.033
intensiven Nacherleben der ausgesprochenen und dargestellten Gefühle pmu_044.034
und Erlebnisse besteht. Sie versetzen sich in eine oder mehrere Personen pmu_044.035
des Dramas oder Romans hinein, erleben alles gleichsam aus diesen Gestalten pmu_044.036
heraus und spielen von deren Standpunkt aus das ganze Drama pmu_044.037
mit. Jch nenne diesen Typus darum den Mitspieler.
pmu_044.038
Der andre Typus ist der bedeutend objektivere und entspricht dem
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |