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Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.

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"Gestaltungsdichter". Wie dieser sein Hauptaugenmerk auf die Formung pmu_045.002
richtet, seinen Personen viel ferner steht, so verfährt auch der objektivere pmu_045.003
Typus des Genießenden, den ich mit einem -- ebenfalls zunächst vom pmu_045.004
Theater entnommenen Ausdruck -- als Zuschauer bezeichnen möchte. pmu_045.005
Er ist sich immer bewußt, daß er "Kunst" genießt, vergißt die Wirklichkeit pmu_045.006
nie, wie der Mitspieler tut; sein Jchbewußtsein schiebt sich niemals dem pmu_045.007
der Personen der Dichtung unter. Er fühlt nicht eigentlich mit ihnen, pmu_045.008
sondern über sie und ihre Erlebnisse, was allerdings ein gewisses Miterleben pmu_045.009
voraussetzt, aber doch wieder etwas andres ist. Sein Kunstgenuß pmu_045.010
ist meist viel komplizierter. Er genießt auch das Ensemble, das Ganze, pmu_045.011
alle formalen Elemente, er ist bewußter und kühler, er schaut eben zu, pmu_045.012
während der andre innerlich mitgerissen wird.

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Es liegt uns auch hier, wie bei allen unsern Typenaufstellungen, vollkommen pmu_045.014
fern, ein Werturteil aufzustellen. Man kann als "Zuschauer" wie pmu_045.015
als "Mitspieler" tiefste Werte aus der Dichtung schöpfen, wenn auch in der pmu_045.016
Regel der Typus des "Zuschauers" die spätere Entwicklungsstufe ist. Die pmu_045.017
Jugend ist in der Regel mehr Mitspieler, das Alter mehr Zuschauer. Aber pmu_045.018
es ist nicht gesagt, daß die spätere Entwicklungsstufe die höhere ist. Ein pmu_045.019
ganz reiner Mitspieler oder Zuschauer ist übrigens wohl kaum jemand. pmu_045.020
Oft wechselt man die Haltung während desselben Stückes beständig. pmu_045.021
Jene Typen bezeichnen nur das Überwiegen in derselben Person.

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Dabei ist offenbar, daß man für seine "Einstellung" einem Werke gegenüber pmu_045.023
sich oft mit Vorteil darüber klar werden wird, ob die passende und pmu_045.024
dem Werke angemessenste Einstellung die des Mitspielers oder die des pmu_045.025
Zuschauers ist. So einfach freilich, wie es vielleicht scheinen möchte, ist pmu_045.026
das durchaus nicht; auch liegt die Sache nicht immer so, daß man bei einem pmu_045.027
Ausdrucksdichter immer mitspielen, bei einem Gestaltungsdichter immer pmu_045.028
zuschauen müsse. Jm Gegenteil, es ist sehr schwer zu erkennen, welche pmu_045.029
Einstellung die beste ist. Es gehört ein feiner Jnstinkt dazu, das Richtige zu pmu_045.030
treffen. Aber es gibt auch Stücke, denen gegenüber eine falsche Einstellung pmu_045.031
zur größten Ungerechtigkeit führen muß. Wollte man etwa Schillers pmu_045.032
"Räuber" oder Hebbels "Judith", diese leidenschaftlichen Ausgeburten pmu_045.033
subjektivster Gefühle, nur als kühl beobachtender Zuschauer werten, so pmu_045.034
würde man so ungerecht sein, als wollte man Werke wie die Goethesche pmu_045.035
Pandora oder einen Roman von Thackeray oder Flaubert nur danach pmu_045.036
werten, wie sehr man selber mitgerissen wird. Solche Werke müssen vielmehr pmu_045.037
mit einer gewissen ästhetischen Distanz genossen werden. Da nicht pmu_045.038
immer die richtige Einstellung gewählt wurde, so hat man oft Werke wie

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„Gestaltungsdichter“. Wie dieser sein Hauptaugenmerk auf die Formung pmu_045.002
richtet, seinen Personen viel ferner steht, so verfährt auch der objektivere pmu_045.003
Typus des Genießenden, den ich mit einem — ebenfalls zunächst vom pmu_045.004
Theater entnommenen Ausdruck — als Zuschauer bezeichnen möchte. pmu_045.005
Er ist sich immer bewußt, daß er „Kunst“ genießt, vergißt die Wirklichkeit pmu_045.006
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sondern über sie und ihre Erlebnisse, was allerdings ein gewisses Miterleben pmu_045.009
voraussetzt, aber doch wieder etwas andres ist. Sein Kunstgenuß pmu_045.010
ist meist viel komplizierter. Er genießt auch das Ensemble, das Ganze, pmu_045.011
alle formalen Elemente, er ist bewußter und kühler, er schaut eben zu, pmu_045.012
während der andre innerlich mitgerissen wird.

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Es liegt uns auch hier, wie bei allen unsern Typenaufstellungen, vollkommen pmu_045.014
fern, ein Werturteil aufzustellen. Man kann als „Zuschauer“ wie pmu_045.015
als „Mitspieler“ tiefste Werte aus der Dichtung schöpfen, wenn auch in der pmu_045.016
Regel der Typus des „Zuschauers“ die spätere Entwicklungsstufe ist. Die pmu_045.017
Jugend ist in der Regel mehr Mitspieler, das Alter mehr Zuschauer. Aber pmu_045.018
es ist nicht gesagt, daß die spätere Entwicklungsstufe die höhere ist. Ein pmu_045.019
ganz reiner Mitspieler oder Zuschauer ist übrigens wohl kaum jemand. pmu_045.020
Oft wechselt man die Haltung während desselben Stückes beständig. pmu_045.021
Jene Typen bezeichnen nur das Überwiegen in derselben Person.

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Dabei ist offenbar, daß man für seine „Einstellung“ einem Werke gegenüber pmu_045.023
sich oft mit Vorteil darüber klar werden wird, ob die passende und pmu_045.024
dem Werke angemessenste Einstellung die des Mitspielers oder die des pmu_045.025
Zuschauers ist. So einfach freilich, wie es vielleicht scheinen möchte, ist pmu_045.026
das durchaus nicht; auch liegt die Sache nicht immer so, daß man bei einem pmu_045.027
Ausdrucksdichter immer mitspielen, bei einem Gestaltungsdichter immer pmu_045.028
zuschauen müsse. Jm Gegenteil, es ist sehr schwer zu erkennen, welche pmu_045.029
Einstellung die beste ist. Es gehört ein feiner Jnstinkt dazu, das Richtige zu pmu_045.030
treffen. Aber es gibt auch Stücke, denen gegenüber eine falsche Einstellung pmu_045.031
zur größten Ungerechtigkeit führen muß. Wollte man etwa Schillers pmu_045.032
„Räuber“ oder Hebbels „Judith“, diese leidenschaftlichen Ausgeburten pmu_045.033
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Pandora oder einen Roman von Thackeray oder Flaubert nur danach pmu_045.036
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[45/0055] pmu_045.001 „Gestaltungsdichter“. Wie dieser sein Hauptaugenmerk auf die Formung pmu_045.002 richtet, seinen Personen viel ferner steht, so verfährt auch der objektivere pmu_045.003 Typus des Genießenden, den ich mit einem — ebenfalls zunächst vom pmu_045.004 Theater entnommenen Ausdruck — als Zuschauer bezeichnen möchte. pmu_045.005 Er ist sich immer bewußt, daß er „Kunst“ genießt, vergißt die Wirklichkeit pmu_045.006 nie, wie der Mitspieler tut; sein Jchbewußtsein schiebt sich niemals dem pmu_045.007 der Personen der Dichtung unter. Er fühlt nicht eigentlich mit ihnen, pmu_045.008 sondern über sie und ihre Erlebnisse, was allerdings ein gewisses Miterleben pmu_045.009 voraussetzt, aber doch wieder etwas andres ist. Sein Kunstgenuß pmu_045.010 ist meist viel komplizierter. Er genießt auch das Ensemble, das Ganze, pmu_045.011 alle formalen Elemente, er ist bewußter und kühler, er schaut eben zu, pmu_045.012 während der andre innerlich mitgerissen wird. pmu_045.013 Es liegt uns auch hier, wie bei allen unsern Typenaufstellungen, vollkommen pmu_045.014 fern, ein Werturteil aufzustellen. Man kann als „Zuschauer“ wie pmu_045.015 als „Mitspieler“ tiefste Werte aus der Dichtung schöpfen, wenn auch in der pmu_045.016 Regel der Typus des „Zuschauers“ die spätere Entwicklungsstufe ist. Die pmu_045.017 Jugend ist in der Regel mehr Mitspieler, das Alter mehr Zuschauer. Aber pmu_045.018 es ist nicht gesagt, daß die spätere Entwicklungsstufe die höhere ist. Ein pmu_045.019 ganz reiner Mitspieler oder Zuschauer ist übrigens wohl kaum jemand. pmu_045.020 Oft wechselt man die Haltung während desselben Stückes beständig. pmu_045.021 Jene Typen bezeichnen nur das Überwiegen in derselben Person. pmu_045.022 Dabei ist offenbar, daß man für seine „Einstellung“ einem Werke gegenüber pmu_045.023 sich oft mit Vorteil darüber klar werden wird, ob die passende und pmu_045.024 dem Werke angemessenste Einstellung die des Mitspielers oder die des pmu_045.025 Zuschauers ist. So einfach freilich, wie es vielleicht scheinen möchte, ist pmu_045.026 das durchaus nicht; auch liegt die Sache nicht immer so, daß man bei einem pmu_045.027 Ausdrucksdichter immer mitspielen, bei einem Gestaltungsdichter immer pmu_045.028 zuschauen müsse. Jm Gegenteil, es ist sehr schwer zu erkennen, welche pmu_045.029 Einstellung die beste ist. Es gehört ein feiner Jnstinkt dazu, das Richtige zu pmu_045.030 treffen. Aber es gibt auch Stücke, denen gegenüber eine falsche Einstellung pmu_045.031 zur größten Ungerechtigkeit führen muß. Wollte man etwa Schillers pmu_045.032 „Räuber“ oder Hebbels „Judith“, diese leidenschaftlichen Ausgeburten pmu_045.033 subjektivster Gefühle, nur als kühl beobachtender Zuschauer werten, so pmu_045.034 würde man so ungerecht sein, als wollte man Werke wie die Goethesche pmu_045.035 Pandora oder einen Roman von Thackeray oder Flaubert nur danach pmu_045.036 werten, wie sehr man selber mitgerissen wird. Solche Werke müssen vielmehr pmu_045.037 mit einer gewissen ästhetischen Distanz genossen werden. Da nicht pmu_045.038 immer die richtige Einstellung gewählt wurde, so hat man oft Werke wie

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Zitationshilfe: Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_poetik_1914/55>, abgerufen am 21.11.2024.