Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_051.001 Eine besonders wichtige Stellung nimmt ferner die religiöse Poesie pmu_051.001 Eine besonders wichtige Stellung nimmt ferner die religiöse Poesie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0061" n="51"/><lb n="pmu_051.001"/> zu Werbungszwecken. Hier, wo wir es mit den Wirkungschancen <lb n="pmu_051.002"/> der Stoffe auf ein Publikum zu tun haben, sei noch auf einen weiteren <lb n="pmu_051.003"/> Punkt aufmerksam gemacht. Die Liebe und alles, was sich so nennt, <lb n="pmu_051.004"/> nimmt im sozialen Leben eine besondere Stellung ein. Wohl für keinen <lb n="pmu_051.005"/> andern Affekt ist die Möglichkeit der Befriedigung so erschwert, wie für <lb n="pmu_051.006"/> diesen. Besonders in unsrer Kultur bringt es die Stellung der Frau mit <lb n="pmu_051.007"/> sich, daß sehr viele vom normalen Geschlechtsverkehr ausgeschlossen sind, <lb n="pmu_051.008"/> nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Hier nun bietet die Dichtung <lb n="pmu_051.009"/> einen gewissen Ersatz, indem sie wenigstens in der Phantasie diejenigen <lb n="pmu_051.010"/> Erlebnisse verschafft, die die Realität nicht zu bieten vermag. Das kann <lb n="pmu_051.011"/> nach der groben wie nach der geistigen Seite geschehen. Es kommt bekanntlich <lb n="pmu_051.012"/> ebensowohl vor, daß hochgebildete und feindifferenzierte Frauen <lb n="pmu_051.013"/> mit Wollust sich in Schilderungen des Dirnenlebens vertiefen, ebenso wie <lb n="pmu_051.014"/> Prostituierte über irgendwelche sentimentalen, platonischen Liebesgeschichten <lb n="pmu_051.015"/> schluchzen. Wie jene Straßendirne in Gorkis Novelle haben sie <lb n="pmu_051.016"/> in der Phantasie irgendeine reinere Liebe, ebenso wie manche <hi rendition="#aq">Demivierge</hi> <lb n="pmu_051.017"/> der besten Stände in der Phantasie sämtliche Sündenfälle, die <lb n="pmu_051.018"/> möglich sind, durchgemacht hat. Auch Frauen und Männer, die in ihrer <lb n="pmu_051.019"/> Ehe unbefriedigt sind, suchen in Romanen das, was das Leben ihnen versagt. <lb n="pmu_051.020"/> Daher, weil das Leben verhältnismäßig ganz wenigen Jndividuen <lb n="pmu_051.021"/> einen völlig befriedigenden Geschlechtsverkehr bietet, rührt die ungeheure <lb n="pmu_051.022"/> Ausbreitung der erotischen Literatur vom feinsten zum gröbsten Genre, <lb n="pmu_051.023"/> und wir sehen hier deutlich die lebensergänzende Bedeutung der Dichtung. <lb n="pmu_051.024"/> Dazu kommt noch eine andre Gemeinsamkeit des erotischen Triebes mit <lb n="pmu_051.025"/> der dichterischen Begabung. Kein andrer Affekt ist so geeignet zum Jdealisieren, <lb n="pmu_051.026"/> kein andrer steigert in solchem Grade das gesamte Lebensgefühl. <lb n="pmu_051.027"/> Daher kommt es denn, daß gerade die Zeit der Geschlechtsreife nicht nur <lb n="pmu_051.028"/> diejenige ist, worin von den meisten Menschen gedichtet wird, sondern <lb n="pmu_051.029"/> auch die tiefste und stärkste Empfänglichkeit für Poesie ist in diesem Alter <lb n="pmu_051.030"/> zu suchen. — Anzufügen ist auch noch, daß diese Gefühle infolge ihres <lb n="pmu_051.031"/> interindividuellen Charakters, weil sie zwischen mehreren Personen spielen, <lb n="pmu_051.032"/> besondere Vorzüge für die Entwicklung von dramatischen Handlungen <lb n="pmu_051.033"/> und Kämpfen bieten. Zumal im modernen Leben, wo infolge der entwickelten <lb n="pmu_051.034"/> Justiz alle andern menschlichen Kämpfe teils unterdrückt, teils <lb n="pmu_051.035"/> ihres romantischen Zaubers entkleidet sind, bietet das weite Feld der erotischen <lb n="pmu_051.036"/> Konflikte noch eine überreiche, fast die einzige Fundgrube für dramatische <lb n="pmu_051.037"/> Handlungen.</p> <lb n="pmu_051.038"/> <p> Eine besonders wichtige Stellung nimmt ferner die <hi rendition="#g">religiöse Poesie</hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [51/0061]
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zu Werbungszwecken. Hier, wo wir es mit den Wirkungschancen pmu_051.002
der Stoffe auf ein Publikum zu tun haben, sei noch auf einen weiteren pmu_051.003
Punkt aufmerksam gemacht. Die Liebe und alles, was sich so nennt, pmu_051.004
nimmt im sozialen Leben eine besondere Stellung ein. Wohl für keinen pmu_051.005
andern Affekt ist die Möglichkeit der Befriedigung so erschwert, wie für pmu_051.006
diesen. Besonders in unsrer Kultur bringt es die Stellung der Frau mit pmu_051.007
sich, daß sehr viele vom normalen Geschlechtsverkehr ausgeschlossen sind, pmu_051.008
nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Hier nun bietet die Dichtung pmu_051.009
einen gewissen Ersatz, indem sie wenigstens in der Phantasie diejenigen pmu_051.010
Erlebnisse verschafft, die die Realität nicht zu bieten vermag. Das kann pmu_051.011
nach der groben wie nach der geistigen Seite geschehen. Es kommt bekanntlich pmu_051.012
ebensowohl vor, daß hochgebildete und feindifferenzierte Frauen pmu_051.013
mit Wollust sich in Schilderungen des Dirnenlebens vertiefen, ebenso wie pmu_051.014
Prostituierte über irgendwelche sentimentalen, platonischen Liebesgeschichten pmu_051.015
schluchzen. Wie jene Straßendirne in Gorkis Novelle haben sie pmu_051.016
in der Phantasie irgendeine reinere Liebe, ebenso wie manche Demivierge pmu_051.017
der besten Stände in der Phantasie sämtliche Sündenfälle, die pmu_051.018
möglich sind, durchgemacht hat. Auch Frauen und Männer, die in ihrer pmu_051.019
Ehe unbefriedigt sind, suchen in Romanen das, was das Leben ihnen versagt. pmu_051.020
Daher, weil das Leben verhältnismäßig ganz wenigen Jndividuen pmu_051.021
einen völlig befriedigenden Geschlechtsverkehr bietet, rührt die ungeheure pmu_051.022
Ausbreitung der erotischen Literatur vom feinsten zum gröbsten Genre, pmu_051.023
und wir sehen hier deutlich die lebensergänzende Bedeutung der Dichtung. pmu_051.024
Dazu kommt noch eine andre Gemeinsamkeit des erotischen Triebes mit pmu_051.025
der dichterischen Begabung. Kein andrer Affekt ist so geeignet zum Jdealisieren, pmu_051.026
kein andrer steigert in solchem Grade das gesamte Lebensgefühl. pmu_051.027
Daher kommt es denn, daß gerade die Zeit der Geschlechtsreife nicht nur pmu_051.028
diejenige ist, worin von den meisten Menschen gedichtet wird, sondern pmu_051.029
auch die tiefste und stärkste Empfänglichkeit für Poesie ist in diesem Alter pmu_051.030
zu suchen. — Anzufügen ist auch noch, daß diese Gefühle infolge ihres pmu_051.031
interindividuellen Charakters, weil sie zwischen mehreren Personen spielen, pmu_051.032
besondere Vorzüge für die Entwicklung von dramatischen Handlungen pmu_051.033
und Kämpfen bieten. Zumal im modernen Leben, wo infolge der entwickelten pmu_051.034
Justiz alle andern menschlichen Kämpfe teils unterdrückt, teils pmu_051.035
ihres romantischen Zaubers entkleidet sind, bietet das weite Feld der erotischen pmu_051.036
Konflikte noch eine überreiche, fast die einzige Fundgrube für dramatische pmu_051.037
Handlungen.
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Eine besonders wichtige Stellung nimmt ferner die religiöse Poesie
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