Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_055.001 Das psychologische Problem liegt nun darin, wie diese Umkehrung entsteht. pmu_055.016 Eine einfache Paralysierung der Unlust kann schon durch das Unterbewußtsein pmu_055.020 pmu_055.001 Das psychologische Problem liegt nun darin, wie diese Umkehrung entsteht. pmu_055.016 Eine einfache Paralysierung der Unlust kann schon durch das Unterbewußtsein pmu_055.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0065" n="55"/><lb n="pmu_055.001"/> alles das, was im Laufe der Jahrtausende als tragisch gegolten hat, so <lb n="pmu_055.002"/> merkt man, daß sich hier ganz fundamentale Unterschiede finden, und daß <lb n="pmu_055.003"/> alle jene, zum Teil auf metaphysische Spekulationen zurückgehenden Formulierungen <lb n="pmu_055.004"/> des Tragischen, wie sie in der Philosophie umgehen, meist <lb n="pmu_055.005"/> nur einzelnen Arten des Tragischen gerecht werden. — Wir werden bei <lb n="pmu_055.006"/> unsrer Analyse der tragischen Wirkung durchaus unsre empirische Methode <lb n="pmu_055.007"/> festhalten, und wir konstatieren zunächst, daß es ein psychologisches Faktum <lb n="pmu_055.008"/> ist, das sich in allen tragischen Wirkungen findet: die Tatsache, daß <lb n="pmu_055.009"/> Eindrücke, die als solche nur geeignet sind, tiefsten Schmerz und andre <lb n="pmu_055.010"/> Unlustgefühle auszulösen, in ihrer Gesamtheit dennoch eine Wirkung haben, <lb n="pmu_055.011"/> die im wesentlichen lustvoll ist. Jst letzteres nicht der Fall, überwiegen <lb n="pmu_055.012"/> die Unlustgefühle, so charakterisieren wir die Wirkung als niederdrückend, <lb n="pmu_055.013"/> traurig, beengend, aber nicht als „tragisch“. Die tragische Wirkung schließt <lb n="pmu_055.014"/> eine Erhebung über die Unlust als wesentlichsten Faktor ein.</p> <lb n="pmu_055.015"/> <p> Das psychologische Problem liegt nun darin, wie diese Umkehrung entsteht. <lb n="pmu_055.016"/> Mustern wir danach die tragischen Wirkungen durch, so finden wir <lb n="pmu_055.017"/> sehr viele Verschiedenheiten, aber kaum etwas Durchgehendes. Es muß uns <lb n="pmu_055.018"/> an dieser Stelle genügen, einige der charakteristischen Fälle darzulegen.</p> <lb n="pmu_055.019"/> <p> Eine einfache Paralysierung der Unlust kann schon durch das Unterbewußtsein <lb n="pmu_055.020"/> gegeben sein, daß alles nur Spiel ist, und zum mindesten kann <lb n="pmu_055.021"/> schon das Erwachen aus dem schweren Traum zuweilen eine solche Erlösung <lb n="pmu_055.022"/> darstellen, die alles Vorhergehende in andres Licht rückt. Jndessen <lb n="pmu_055.023"/> genügt das natürlich nicht. Auch bloß das Miterleben schrecklicher Geschehnisse <lb n="pmu_055.024"/> an sich kann ein gewisses Lustgefühl hervorrufen, das man als <lb n="pmu_055.025"/> „Funktionsgefühl“ bezeichnet hat, weil die bloße Durchrüttelung unsrer <lb n="pmu_055.026"/> Nerven mit Lustgefühlen verknüpft sein kann. Der Reiz von Schauerromanen <lb n="pmu_055.027"/> liegt zum großen Teil auf diesem Gebiete, und unsre Kinematographen <lb n="pmu_055.028"/> und Vorstadtbühnen machen sich solche Wirkungen reichlich zunutze. <lb n="pmu_055.029"/> Daß auch Grausamkeit, zuweilen sogar sadistische oder masochistische <lb n="pmu_055.030"/> Gefühle mitspielen dabei, wird nicht bestritten werden können. Jndessen <lb n="pmu_055.031"/> stellen alle diese Dinge höchstens eine primitive Vorstufe des Tragischen <lb n="pmu_055.032"/> im höheren Sinne dar. Dieses beginnt erst dort, wo <hi rendition="#g">ethische</hi> <lb n="pmu_055.033"/> Jdeen mitspielen. Und in der Tat ist das Tragische immer als etwas <lb n="pmu_055.034"/> Tiefethisches empfunden worden. Und aus gewissen ethischen Gefühlen <lb n="pmu_055.035"/> schöpfen wir darum das tiefste Lustgefühl, die eigentliche Erhebung über <lb n="pmu_055.036"/> das Schreckliche der Tragik. Diese ethische Erhebung aber kann auch sehr <lb n="pmu_055.037"/> verschiedener Art sein, und ich möchte nur drei der wichtigsten Formen <lb n="pmu_055.038"/> hervorheben. Die eine möchte ich die <hi rendition="#g">Schuldtragik</hi> nennen: Hier tritt </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0065]
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alles das, was im Laufe der Jahrtausende als tragisch gegolten hat, so pmu_055.002
merkt man, daß sich hier ganz fundamentale Unterschiede finden, und daß pmu_055.003
alle jene, zum Teil auf metaphysische Spekulationen zurückgehenden Formulierungen pmu_055.004
des Tragischen, wie sie in der Philosophie umgehen, meist pmu_055.005
nur einzelnen Arten des Tragischen gerecht werden. — Wir werden bei pmu_055.006
unsrer Analyse der tragischen Wirkung durchaus unsre empirische Methode pmu_055.007
festhalten, und wir konstatieren zunächst, daß es ein psychologisches Faktum pmu_055.008
ist, das sich in allen tragischen Wirkungen findet: die Tatsache, daß pmu_055.009
Eindrücke, die als solche nur geeignet sind, tiefsten Schmerz und andre pmu_055.010
Unlustgefühle auszulösen, in ihrer Gesamtheit dennoch eine Wirkung haben, pmu_055.011
die im wesentlichen lustvoll ist. Jst letzteres nicht der Fall, überwiegen pmu_055.012
die Unlustgefühle, so charakterisieren wir die Wirkung als niederdrückend, pmu_055.013
traurig, beengend, aber nicht als „tragisch“. Die tragische Wirkung schließt pmu_055.014
eine Erhebung über die Unlust als wesentlichsten Faktor ein.
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Das psychologische Problem liegt nun darin, wie diese Umkehrung entsteht. pmu_055.016
Mustern wir danach die tragischen Wirkungen durch, so finden wir pmu_055.017
sehr viele Verschiedenheiten, aber kaum etwas Durchgehendes. Es muß uns pmu_055.018
an dieser Stelle genügen, einige der charakteristischen Fälle darzulegen.
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Eine einfache Paralysierung der Unlust kann schon durch das Unterbewußtsein pmu_055.020
gegeben sein, daß alles nur Spiel ist, und zum mindesten kann pmu_055.021
schon das Erwachen aus dem schweren Traum zuweilen eine solche Erlösung pmu_055.022
darstellen, die alles Vorhergehende in andres Licht rückt. Jndessen pmu_055.023
genügt das natürlich nicht. Auch bloß das Miterleben schrecklicher Geschehnisse pmu_055.024
an sich kann ein gewisses Lustgefühl hervorrufen, das man als pmu_055.025
„Funktionsgefühl“ bezeichnet hat, weil die bloße Durchrüttelung unsrer pmu_055.026
Nerven mit Lustgefühlen verknüpft sein kann. Der Reiz von Schauerromanen pmu_055.027
liegt zum großen Teil auf diesem Gebiete, und unsre Kinematographen pmu_055.028
und Vorstadtbühnen machen sich solche Wirkungen reichlich zunutze. pmu_055.029
Daß auch Grausamkeit, zuweilen sogar sadistische oder masochistische pmu_055.030
Gefühle mitspielen dabei, wird nicht bestritten werden können. Jndessen pmu_055.031
stellen alle diese Dinge höchstens eine primitive Vorstufe des Tragischen pmu_055.032
im höheren Sinne dar. Dieses beginnt erst dort, wo ethische pmu_055.033
Jdeen mitspielen. Und in der Tat ist das Tragische immer als etwas pmu_055.034
Tiefethisches empfunden worden. Und aus gewissen ethischen Gefühlen pmu_055.035
schöpfen wir darum das tiefste Lustgefühl, die eigentliche Erhebung über pmu_055.036
das Schreckliche der Tragik. Diese ethische Erhebung aber kann auch sehr pmu_055.037
verschiedener Art sein, und ich möchte nur drei der wichtigsten Formen pmu_055.038
hervorheben. Die eine möchte ich die Schuldtragik nennen: Hier tritt
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