Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_061.001 Diese Entwicklung der Stilformen der Darbietung nun ist mit innerer pmu_061.009 pmu_061.001 Diese Entwicklung der Stilformen der Darbietung nun ist mit innerer pmu_061.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0071" n="61"/><lb n="pmu_061.001"/> Drama Jbsens enthält weniger rein epische und auch lyrische Elemente <lb n="pmu_061.002"/> als das Shakespeares oder gar das der Attiker, die symbolistische Lyrik <lb n="pmu_061.003"/> verzichtet auf jegliche epische oder dramatische Gestaltung in einem vorher <lb n="pmu_061.004"/> nicht bekannten Maße. Natürlich lassen sich auch Reaktionen nachweisen; <lb n="pmu_061.005"/> im großen und ganzen jedoch strebt der dichterische Stil nach immer größerer <lb n="pmu_061.006"/> <hi rendition="#g">Spezialisierung,</hi> obwohl selbstverständlich völlige Reinkultur des <lb n="pmu_061.007"/> Epischen oder Lyrischen keineswegs ein Jdeal darstellt.</p> <lb n="pmu_061.008"/> <p> Diese Entwicklung der Stilformen der Darbietung nun ist mit innerer <lb n="pmu_061.009"/> Notwendigkeit vor sich gegangen, und es wird unsre Aufgabe sein, die <lb n="pmu_061.010"/> Bedingungen dieser Entwicklung klarzulegen. Verhältnismäßig am wenigsten <lb n="pmu_061.011"/> kommt die Willkür des Dichters in Betracht. Gerade die größten <lb n="pmu_061.012"/> Künstler haben selten versucht, neue Formen zu schaffen, sondern haben <lb n="pmu_061.013"/> nur die vorhandenen in genialer Weise benutzt. So hat man bemerkt, daß <lb n="pmu_061.014"/> Goethe keine neue Versform, keine neue Strophe geschaffen hat. Die <lb n="pmu_061.015"/> meisten Versuche, aus Willkür oder Theorie heraus neue Formen zu <lb n="pmu_061.016"/> schaffen, sind gescheitert. So ging es mit den Versuchen der deutschen Romantik, <lb n="pmu_061.017"/> der Fr. Schlegel, Novalis usw., die aus der Reflexion heraus eine <lb n="pmu_061.018"/> neue Form des Romans finden wollten, so erging es mit der Holzschen <lb n="pmu_061.019"/> „Revolution der Lyrik“ und vielen andern. Da, wo das Verfahren des <lb n="pmu_061.020"/> Dichters nicht feinste Fühlung behielt mit allen andern Faktoren, ging es <lb n="pmu_061.021"/> in die Jrre. — Viel wichtiger ist die <hi rendition="#g">Konstitution des Publikums,</hi> <lb n="pmu_061.022"/> denn dieses ist es, was vor allem über Bestehen oder Nichtbestehen künstlerischer <lb n="pmu_061.023"/> Formen entscheidet. Sein Beifall oder seine Ablehnung wirkt <lb n="pmu_061.024"/> ungeheuer stark zurück auf die Entwicklung der einzelnen Formen. Diese <lb n="pmu_061.025"/> müssen daher aufs genaueste der psychologischen Verfassung, Aufnahmefähigkeit <lb n="pmu_061.026"/> usw. des Publikums angepaßt sein. Ferner kommen in Betracht <lb n="pmu_061.027"/> die <hi rendition="#g">Stoffe,</hi> die ebenfalls bedingend wirken für die Ausbildung der Formen. <lb n="pmu_061.028"/> Denn nicht jeder Stoff paßt für jede Form. Stoffe heroischen und <lb n="pmu_061.029"/> tragischen Charakters eignen sich besser für die große Szene oder das <lb n="pmu_061.030"/> große Epos; das Zierliche, Liebliche, Jdyllische wird sich am liebsten in <lb n="pmu_061.031"/> lyrischen Formen äußern. Vor allem aber brachte auch die <hi rendition="#g">Art der <lb n="pmu_061.032"/> Darbietung</hi> selber, wenn sie einmal gewählt war, eine ganze Menge <lb n="pmu_061.033"/> in ihr selber liegender Momente mit sich, die bedingend für die Form werden <lb n="pmu_061.034"/> mußten. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Stoff gesungen, <lb n="pmu_061.035"/> gesprochen oder gelesen wird. Nur der Laie meint, es sei in der Kunst <lb n="pmu_061.036"/> alles mit allem möglich. Jn Wirklichkeit haben die großen Künstler niemals <lb n="pmu_061.037"/> versucht, Schwierigkeiten gewaltsam zu forcieren, sondern sie haben <lb n="pmu_061.038"/> ihnen sorgfältigst Rechnung getragen, wie ein großer Stratege auch nicht </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [61/0071]
pmu_061.001
Drama Jbsens enthält weniger rein epische und auch lyrische Elemente pmu_061.002
als das Shakespeares oder gar das der Attiker, die symbolistische Lyrik pmu_061.003
verzichtet auf jegliche epische oder dramatische Gestaltung in einem vorher pmu_061.004
nicht bekannten Maße. Natürlich lassen sich auch Reaktionen nachweisen; pmu_061.005
im großen und ganzen jedoch strebt der dichterische Stil nach immer größerer pmu_061.006
Spezialisierung, obwohl selbstverständlich völlige Reinkultur des pmu_061.007
Epischen oder Lyrischen keineswegs ein Jdeal darstellt.
pmu_061.008
Diese Entwicklung der Stilformen der Darbietung nun ist mit innerer pmu_061.009
Notwendigkeit vor sich gegangen, und es wird unsre Aufgabe sein, die pmu_061.010
Bedingungen dieser Entwicklung klarzulegen. Verhältnismäßig am wenigsten pmu_061.011
kommt die Willkür des Dichters in Betracht. Gerade die größten pmu_061.012
Künstler haben selten versucht, neue Formen zu schaffen, sondern haben pmu_061.013
nur die vorhandenen in genialer Weise benutzt. So hat man bemerkt, daß pmu_061.014
Goethe keine neue Versform, keine neue Strophe geschaffen hat. Die pmu_061.015
meisten Versuche, aus Willkür oder Theorie heraus neue Formen zu pmu_061.016
schaffen, sind gescheitert. So ging es mit den Versuchen der deutschen Romantik, pmu_061.017
der Fr. Schlegel, Novalis usw., die aus der Reflexion heraus eine pmu_061.018
neue Form des Romans finden wollten, so erging es mit der Holzschen pmu_061.019
„Revolution der Lyrik“ und vielen andern. Da, wo das Verfahren des pmu_061.020
Dichters nicht feinste Fühlung behielt mit allen andern Faktoren, ging es pmu_061.021
in die Jrre. — Viel wichtiger ist die Konstitution des Publikums, pmu_061.022
denn dieses ist es, was vor allem über Bestehen oder Nichtbestehen künstlerischer pmu_061.023
Formen entscheidet. Sein Beifall oder seine Ablehnung wirkt pmu_061.024
ungeheuer stark zurück auf die Entwicklung der einzelnen Formen. Diese pmu_061.025
müssen daher aufs genaueste der psychologischen Verfassung, Aufnahmefähigkeit pmu_061.026
usw. des Publikums angepaßt sein. Ferner kommen in Betracht pmu_061.027
die Stoffe, die ebenfalls bedingend wirken für die Ausbildung der Formen. pmu_061.028
Denn nicht jeder Stoff paßt für jede Form. Stoffe heroischen und pmu_061.029
tragischen Charakters eignen sich besser für die große Szene oder das pmu_061.030
große Epos; das Zierliche, Liebliche, Jdyllische wird sich am liebsten in pmu_061.031
lyrischen Formen äußern. Vor allem aber brachte auch die Art der pmu_061.032
Darbietung selber, wenn sie einmal gewählt war, eine ganze Menge pmu_061.033
in ihr selber liegender Momente mit sich, die bedingend für die Form werden pmu_061.034
mußten. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Stoff gesungen, pmu_061.035
gesprochen oder gelesen wird. Nur der Laie meint, es sei in der Kunst pmu_061.036
alles mit allem möglich. Jn Wirklichkeit haben die großen Künstler niemals pmu_061.037
versucht, Schwierigkeiten gewaltsam zu forcieren, sondern sie haben pmu_061.038
ihnen sorgfältigst Rechnung getragen, wie ein großer Stratege auch nicht
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |