Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_062.001 Alle diese Momente wirken zusammen und greifen ineinander, um pmu_062.009 3. Als das Wesen der Epik gilt seit alters die erzählende Darstellung pmu_062.018 Jndessen hat man den Begriff der Objektivität auch im Sinne der pmu_062.027 pmu_062.001 Alle diese Momente wirken zusammen und greifen ineinander, um pmu_062.009 3. Als das Wesen der Epik gilt seit alters die erzählende Darstellung pmu_062.018 Jndessen hat man den Begriff der Objektivität auch im Sinne der pmu_062.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0072" n="62"/><lb n="pmu_062.001"/> die Schwierigkeiten des Terrains durch Gewaltmärsche zu zwingen pflegt, <lb n="pmu_062.002"/> sondern sich auch die scheinbaren Hindernisse zu Verbündeten zu machen <lb n="pmu_062.003"/> weiß. So sind oft scheinbare Nötigungen Mittel zu stärksten Wirkungen <lb n="pmu_062.004"/> geworden. Der Zwang zur Akteinteilung aus Rücksicht auf die Aufnahmefähigkeit <lb n="pmu_062.005"/> des Publikums z. B. hat jene klare Disposition und Geschlossenheit <lb n="pmu_062.006"/> der Form mit sich gebracht, die das Drama vor dem oft uferlosen <lb n="pmu_062.007"/> Roman voraus hat.</p> <lb n="pmu_062.008"/> <p> Alle diese Momente wirken zusammen und greifen ineinander, um <lb n="pmu_062.009"/> jene Kunstformen zustande zu bringen, die sich als ziemlich stabil erwiesen <lb n="pmu_062.010"/> haben im Lauf der Geschichte. Jn der Regel wird in der Kunst — wie <lb n="pmu_062.011"/> im gesellschaftlichen Leben — das Vorhandensein fester Formen als Erleichterung, <lb n="pmu_062.012"/> nicht als Erschwerung empfunden. Nur unreife Stürmer <lb n="pmu_062.013"/> und Dränger pflegen Sturm zu laufen gegen die mit Notwendigkeit gewordene <lb n="pmu_062.014"/> Tradition, gewöhnlich aber führt auch dieser Sturm und Drang, <lb n="pmu_062.015"/> falls etwas dahinter war, nur zu solchen „neuen“ Formen, die sich bei <lb n="pmu_062.016"/> Lichte besehen als geringfügige Modifikationen der alten erweisen.</p> <lb n="pmu_062.017"/> </div> <div n="3"> <p> 3. Als das Wesen der Epik gilt seit alters die erzählende Darstellung <lb n="pmu_062.018"/> von Geschehnissen. Um nun die Kunst des Epikers gegen die des Lyrikers <lb n="pmu_062.019"/> abzugrenzen, hat man oft seine „Objektivität“ herangezogen. Diese Annahme <lb n="pmu_062.020"/> besteht zu recht, wenn man damit die größere Sachlichkeit des <lb n="pmu_062.021"/> Epikers meint, dem es in erster Linie auf die Darstellung von Tatsächlichkeiten <lb n="pmu_062.022"/> ankommt und für den die Erweckung von Gefühlen erst sekundär <lb n="pmu_062.023"/> ist, während für den Lyriker es auf die Gefühle in erster Linie ankommt, <lb n="pmu_062.024"/> wogegen ihm die Darstellung von objektiven Tatsachen höchstens Mittel <lb n="pmu_062.025"/> zum Zweck ist.</p> <lb n="pmu_062.026"/> <p> Jndessen hat man den Begriff der Objektivität auch im Sinne der <lb n="pmu_062.027"/> „Unparteilichkeit“, ja der „Unpersönlichkeit“ des Dichters gefaßt. Nun <lb n="pmu_062.028"/> liegt auf der Hand, daß eine völlig unpersönliche Darstellung, wenn so <lb n="pmu_062.029"/> etwas überhaupt möglich wäre, aufhören würde, Kunst zu sein. Aber <lb n="pmu_062.030"/> auch die Forderung der Unparteilichkeit ist nur bis zu einem gewissen <lb n="pmu_062.031"/> Grade zulässig. Denn tatsächlich zeigt es sich, daß die größten Epiker seit <lb n="pmu_062.032"/> Homers Zeiten ihre Gunst ungleich verteilt haben, was sich in kleinen <lb n="pmu_062.033"/> Beiworten wie in der gesamten Licht- und Schattengebung offenbaren <lb n="pmu_062.034"/> kann. Und gerade die persönliche Anteilnahme des Erzählers, seine Zwischenrufe, <lb n="pmu_062.035"/> Reflexionen können oft dem Stil eine ganz besondere Wärme <lb n="pmu_062.036"/> und Lebendigkeit verleihen. Man denke an Kleists „Anekdote aus dem <lb n="pmu_062.037"/> letzten preußischen Kriege“, wo gerade die unverhohlene Bewunderung </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [62/0072]
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die Schwierigkeiten des Terrains durch Gewaltmärsche zu zwingen pflegt, pmu_062.002
sondern sich auch die scheinbaren Hindernisse zu Verbündeten zu machen pmu_062.003
weiß. So sind oft scheinbare Nötigungen Mittel zu stärksten Wirkungen pmu_062.004
geworden. Der Zwang zur Akteinteilung aus Rücksicht auf die Aufnahmefähigkeit pmu_062.005
des Publikums z. B. hat jene klare Disposition und Geschlossenheit pmu_062.006
der Form mit sich gebracht, die das Drama vor dem oft uferlosen pmu_062.007
Roman voraus hat.
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Alle diese Momente wirken zusammen und greifen ineinander, um pmu_062.009
jene Kunstformen zustande zu bringen, die sich als ziemlich stabil erwiesen pmu_062.010
haben im Lauf der Geschichte. Jn der Regel wird in der Kunst — wie pmu_062.011
im gesellschaftlichen Leben — das Vorhandensein fester Formen als Erleichterung, pmu_062.012
nicht als Erschwerung empfunden. Nur unreife Stürmer pmu_062.013
und Dränger pflegen Sturm zu laufen gegen die mit Notwendigkeit gewordene pmu_062.014
Tradition, gewöhnlich aber führt auch dieser Sturm und Drang, pmu_062.015
falls etwas dahinter war, nur zu solchen „neuen“ Formen, die sich bei pmu_062.016
Lichte besehen als geringfügige Modifikationen der alten erweisen.
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3. Als das Wesen der Epik gilt seit alters die erzählende Darstellung pmu_062.018
von Geschehnissen. Um nun die Kunst des Epikers gegen die des Lyrikers pmu_062.019
abzugrenzen, hat man oft seine „Objektivität“ herangezogen. Diese Annahme pmu_062.020
besteht zu recht, wenn man damit die größere Sachlichkeit des pmu_062.021
Epikers meint, dem es in erster Linie auf die Darstellung von Tatsächlichkeiten pmu_062.022
ankommt und für den die Erweckung von Gefühlen erst sekundär pmu_062.023
ist, während für den Lyriker es auf die Gefühle in erster Linie ankommt, pmu_062.024
wogegen ihm die Darstellung von objektiven Tatsachen höchstens Mittel pmu_062.025
zum Zweck ist.
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Jndessen hat man den Begriff der Objektivität auch im Sinne der pmu_062.027
„Unparteilichkeit“, ja der „Unpersönlichkeit“ des Dichters gefaßt. Nun pmu_062.028
liegt auf der Hand, daß eine völlig unpersönliche Darstellung, wenn so pmu_062.029
etwas überhaupt möglich wäre, aufhören würde, Kunst zu sein. Aber pmu_062.030
auch die Forderung der Unparteilichkeit ist nur bis zu einem gewissen pmu_062.031
Grade zulässig. Denn tatsächlich zeigt es sich, daß die größten Epiker seit pmu_062.032
Homers Zeiten ihre Gunst ungleich verteilt haben, was sich in kleinen pmu_062.033
Beiworten wie in der gesamten Licht- und Schattengebung offenbaren pmu_062.034
kann. Und gerade die persönliche Anteilnahme des Erzählers, seine Zwischenrufe, pmu_062.035
Reflexionen können oft dem Stil eine ganz besondere Wärme pmu_062.036
und Lebendigkeit verleihen. Man denke an Kleists „Anekdote aus dem pmu_062.037
letzten preußischen Kriege“, wo gerade die unverhohlene Bewunderung
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