Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_066.001 Der Hauptgrund für alle diese Unterschiede ist auch hier in der Art der pmu_066.009 pmu_066.001 Der Hauptgrund für alle diese Unterschiede ist auch hier in der Art der pmu_066.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0076" n="66"/><lb n="pmu_066.001"/> ist, darum nicht identisch damit. Der Vers allein macht's nicht; der <lb n="pmu_066.002"/> Unterschied liegt tiefer, was schon dadurch zum Bewußtsein gebracht <lb n="pmu_066.003"/> werden kann, daß man etwa die „Odyssee“ und den „Trompeter von <lb n="pmu_066.004"/> Säckingen“ vergleicht; erstere ist ein Epos, letzterer ein Roman in Versen. <lb n="pmu_066.005"/> — Es ist nicht nur die äußere Form, es ist auch die „spezifische Schwere“ <lb n="pmu_066.006"/> des Jnhalts, die Abrundung einzelner Teile und andres, was das alte <lb n="pmu_066.007"/> Epos im Jnnersten vom Romane unterscheidet.</p> <lb n="pmu_066.008"/> <p> Der Hauptgrund für alle diese Unterschiede ist auch hier in der Art der <lb n="pmu_066.009"/> Darbietung zu suchen. Das alte Epos, wenn es auch schon geschrieben <lb n="pmu_066.010"/> wurde, war doch in ganz anderm Maße für die Rezitation und den mündlichen <lb n="pmu_066.011"/> Vortrag geschaffen als der Roman. Auch das Kunstepos, noch Dante <lb n="pmu_066.012"/> und Tasso wurden öffentlich rezitiert und vorgelesen. Das Aufkommen des <lb n="pmu_066.013"/> Romans fällt dagegen mit dem <hi rendition="#g">Buchdrucke</hi> zusammen. Jndem das <lb n="pmu_066.014"/> Werk aber für die Einzellektüre bestimmt wurde und vom Einzelleser daher <lb n="pmu_066.015"/> in seinen Wirkungsfaktoren bedingt wurde, mußte ein tiefgreifender <lb n="pmu_066.016"/> Unterschied eintreten. Wandlungen, die bereits das große Versepos gegenüber <lb n="pmu_066.017"/> der Ballade zeigte, mußten jetzt in noch viel konsequenterer Weise <lb n="pmu_066.018"/> sich ausbilden. Alle jene Beschränkungen, die Konzentration und Rücksicht, <lb n="pmu_066.019"/> die ein unmittelbar gegenwärtiges, in großer Zahl wirksames Publikum <lb n="pmu_066.020"/> vom Dichter forderte, fallen weg. Die Aufnahmebedingungen wandeln <lb n="pmu_066.021"/> sich völlig; der Einzelleser, der nicht ein abgerundetes Ganze braucht, <lb n="pmu_066.022"/> sondern der nach Belieben die Lektüre unterbricht und wieder aufnimmt, <lb n="pmu_066.023"/> ist die entscheidende Jnstanz; die Kultur der Sprache, vor allem die <lb n="pmu_066.024"/> Kunst des Verses, die für den Rezitator ein wichtiger Wirkungsfaktor war, <lb n="pmu_066.025"/> verlieren für den leise lesenden einzelnen an Wichtigkeit und werden <lb n="pmu_066.026"/> darum entbehrlich. Dafür wird das Stoffbedürfnis viel größer und kann, <lb n="pmu_066.027"/> da nicht das Gedächtnis, sondern der Druck vermittelt, in ganz anderm <lb n="pmu_066.028"/> Maße befriedigt werden. Aber auch die <hi rendition="#g">Qualität</hi> des Stoffes wird eine <lb n="pmu_066.029"/> andre. Da das alte Epos, infolge der ganzen Darbietung auf Wiederholung, <lb n="pmu_066.030"/> auf öfteres Gehörtwerden Rücksicht nehmen mußte, so mußte es <lb n="pmu_066.031"/> so machtvolle und reiche Motive haben, die es vertrugen, immer von neuem <lb n="pmu_066.032"/> genossen zu werden. Beim gedruckten Roman, der heute gelesen und <lb n="pmu_066.033"/> morgen von einem neuen verdrängt wird, ist allzu große Schwere und <lb n="pmu_066.034"/> Tiefe der Motive eher der raschen Wirkung schädlich. — Dafür hat er <lb n="pmu_066.035"/> Raum für differenzierte, intime, leise Wirkungen, wie sie wiederum dem <lb n="pmu_066.036"/> großen Epos nicht lagen. Kurz, die Darbietung des Romans ist eine völlig <lb n="pmu_066.037"/> andre, und das wirkt zurück auf den Stil. Vielleicht wirken darum die <lb n="pmu_066.038"/> alten Epen heute nicht mehr wie früher, weil wir sie lesend als Romane </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0076]
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ist, darum nicht identisch damit. Der Vers allein macht's nicht; der pmu_066.002
Unterschied liegt tiefer, was schon dadurch zum Bewußtsein gebracht pmu_066.003
werden kann, daß man etwa die „Odyssee“ und den „Trompeter von pmu_066.004
Säckingen“ vergleicht; erstere ist ein Epos, letzterer ein Roman in Versen. pmu_066.005
— Es ist nicht nur die äußere Form, es ist auch die „spezifische Schwere“ pmu_066.006
des Jnhalts, die Abrundung einzelner Teile und andres, was das alte pmu_066.007
Epos im Jnnersten vom Romane unterscheidet.
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Der Hauptgrund für alle diese Unterschiede ist auch hier in der Art der pmu_066.009
Darbietung zu suchen. Das alte Epos, wenn es auch schon geschrieben pmu_066.010
wurde, war doch in ganz anderm Maße für die Rezitation und den mündlichen pmu_066.011
Vortrag geschaffen als der Roman. Auch das Kunstepos, noch Dante pmu_066.012
und Tasso wurden öffentlich rezitiert und vorgelesen. Das Aufkommen des pmu_066.013
Romans fällt dagegen mit dem Buchdrucke zusammen. Jndem das pmu_066.014
Werk aber für die Einzellektüre bestimmt wurde und vom Einzelleser daher pmu_066.015
in seinen Wirkungsfaktoren bedingt wurde, mußte ein tiefgreifender pmu_066.016
Unterschied eintreten. Wandlungen, die bereits das große Versepos gegenüber pmu_066.017
der Ballade zeigte, mußten jetzt in noch viel konsequenterer Weise pmu_066.018
sich ausbilden. Alle jene Beschränkungen, die Konzentration und Rücksicht, pmu_066.019
die ein unmittelbar gegenwärtiges, in großer Zahl wirksames Publikum pmu_066.020
vom Dichter forderte, fallen weg. Die Aufnahmebedingungen wandeln pmu_066.021
sich völlig; der Einzelleser, der nicht ein abgerundetes Ganze braucht, pmu_066.022
sondern der nach Belieben die Lektüre unterbricht und wieder aufnimmt, pmu_066.023
ist die entscheidende Jnstanz; die Kultur der Sprache, vor allem die pmu_066.024
Kunst des Verses, die für den Rezitator ein wichtiger Wirkungsfaktor war, pmu_066.025
verlieren für den leise lesenden einzelnen an Wichtigkeit und werden pmu_066.026
darum entbehrlich. Dafür wird das Stoffbedürfnis viel größer und kann, pmu_066.027
da nicht das Gedächtnis, sondern der Druck vermittelt, in ganz anderm pmu_066.028
Maße befriedigt werden. Aber auch die Qualität des Stoffes wird eine pmu_066.029
andre. Da das alte Epos, infolge der ganzen Darbietung auf Wiederholung, pmu_066.030
auf öfteres Gehörtwerden Rücksicht nehmen mußte, so mußte es pmu_066.031
so machtvolle und reiche Motive haben, die es vertrugen, immer von neuem pmu_066.032
genossen zu werden. Beim gedruckten Roman, der heute gelesen und pmu_066.033
morgen von einem neuen verdrängt wird, ist allzu große Schwere und pmu_066.034
Tiefe der Motive eher der raschen Wirkung schädlich. — Dafür hat er pmu_066.035
Raum für differenzierte, intime, leise Wirkungen, wie sie wiederum dem pmu_066.036
großen Epos nicht lagen. Kurz, die Darbietung des Romans ist eine völlig pmu_066.037
andre, und das wirkt zurück auf den Stil. Vielleicht wirken darum die pmu_066.038
alten Epen heute nicht mehr wie früher, weil wir sie lesend als Romane
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