Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_068.001 Eine Form, die neuerdings in Aufnahme gekommen ist, stellt die pmu_068.010 8. Die Lyrik ist im Gegensatz zu Dramatik und Epik die Kunst des pmu_068.019 Für diese spezifische Form des Gefühlsausdrucks ist zunächst charakteristisch pmu_068.034 pmu_068.001 Eine Form, die neuerdings in Aufnahme gekommen ist, stellt die pmu_068.010 8. Die Lyrik ist im Gegensatz zu Dramatik und Epik die Kunst des pmu_068.019 Für diese spezifische Form des Gefühlsausdrucks ist zunächst charakteristisch pmu_068.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0078" n="68"/><lb n="pmu_068.001"/> näher als der Roman, und man hat wohl gute Dramen aus Novellen, <lb n="pmu_068.002"/> nie aus Romanen geschöpft. Diese Forderungen des Hörpublikums aber <lb n="pmu_068.003"/> sind: straffste Komposition, rasches Tempo, Prägnanz und Drastik der <lb n="pmu_068.004"/> Motive, alles Dinge, die selbst im guten Romane zu fehlen pflegen. Daher <lb n="pmu_068.005"/> sind in der Novelle Abschweifungen, Einlagen gedanklichen oder lyrischen <lb n="pmu_068.006"/> Jnhalts unmöglich; man hat das Gefühl, der Hörer würde den <lb n="pmu_068.007"/> Vorleser mit Zurufen wie „zur Sache!“ unterbrechen. So bedingt auch <lb n="pmu_068.008"/> für die Novelle die Art der Darbietung den Stil.</p> <lb n="pmu_068.009"/> <p> Eine Form, die neuerdings in Aufnahme gekommen ist, stellt die <lb n="pmu_068.010"/> <hi rendition="#g">Skizze</hi> dar, die meist ihre Reize aus besonderer Stimmungsfeinheit <lb n="pmu_068.011"/> schöpft und die sich von der Novelle durch geringere Plastik der Handlung <lb n="pmu_068.012"/> unterscheidet. Man kann in ihr die Prosaauflösung lyrischer Gedichte <lb n="pmu_068.013"/> sehen. Trotz Turgeniew, Huysmans, Altenberg und andern hat die Skizze <lb n="pmu_068.014"/> es jedoch noch nicht zu einer festen künstlerischen Form gebracht. Wie der <lb n="pmu_068.015"/> Roman, die Prosaauflösung des Epos, ist die Skizze ein Produkt für den <lb n="pmu_068.016"/> Druck, nicht für das Rezitieren, wie das eigentliche Lyrikon; in der Regel <lb n="pmu_068.017"/> versagt sie daher auch beim Vorlesen.</p> <lb n="pmu_068.018"/> </div> <div n="3"> <p> 8. Die Lyrik ist im Gegensatz zu Dramatik und Epik die Kunst des <lb n="pmu_068.019"/> subjektiven Gefühlsausdrucks. Kommt es jenen Gattungen vor allem auf <lb n="pmu_068.020"/> gegenständliche Darstellung an, wogegen der subjektive Gefühlsausdruck <lb n="pmu_068.021"/> zurücktritt, so überwiegt in der Lyrik die Subjektivität, und alles Gegenständliche <lb n="pmu_068.022"/> hat rein symbolischen Wert, ist nichts an sich, sondern lebt nur <lb n="pmu_068.023"/> als Jnkorporation der Gefühle des Dichters. Damit ist allerdings, wie <lb n="pmu_068.024"/> überall, zuzugeben, daß die Grenze der Gattungen keine ganz scharfe ist; <lb n="pmu_068.025"/> was hier als lyrisch bezeichnet wurde, ist nicht bloß eine Stilform der Darbietung, <lb n="pmu_068.026"/> sondern eine der fundamentalen Verschiedenheiten im Verhalten <lb n="pmu_068.027"/> des Dichters überhaupt, die wir oben als den Gegensatz zwischen Ausdrucks- <lb n="pmu_068.028"/> und Gestaltungsdichter ausgeführt haben. Es kommen daher in <lb n="pmu_068.029"/> Romanen und Epen Stellen genug vor, die wir als lyrisch bezeichnen können. <lb n="pmu_068.030"/> Hier haben wir es indessen mit derjenigen Kunstform zu tun, die sich <lb n="pmu_068.031"/> der lyrische Dichter als ihm besonders homogen geschaffen hat und wo er <lb n="pmu_068.032"/> nicht ihm wesensfremde Stilgattungen vergewaltigt: der eigentlichen Lyrik.</p> <lb n="pmu_068.033"/> <p> Für diese spezifische Form des Gefühlsausdrucks ist zunächst charakteristisch <lb n="pmu_068.034"/> die <hi rendition="#g">Kürze.</hi> Diese ist nichts Äußerliches, sondern entspringt dem <lb n="pmu_068.035"/> tiefsten Wesen dieser Kunst. Ein Gefühlsausdruck wirkt nämlich immer am <lb n="pmu_068.036"/> stärksten, wenn er kurz und möglichst prägnant ist, während Geschwätzigkeit <lb n="pmu_068.037"/> und übergroßer Wortreichtum jede Wirkung aufhebt. Der Erzähler <lb n="pmu_068.038"/> wechselnder Geschehnisse kann in die Breite gehen, derjenige, der nur sein </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [68/0078]
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näher als der Roman, und man hat wohl gute Dramen aus Novellen, pmu_068.002
nie aus Romanen geschöpft. Diese Forderungen des Hörpublikums aber pmu_068.003
sind: straffste Komposition, rasches Tempo, Prägnanz und Drastik der pmu_068.004
Motive, alles Dinge, die selbst im guten Romane zu fehlen pflegen. Daher pmu_068.005
sind in der Novelle Abschweifungen, Einlagen gedanklichen oder lyrischen pmu_068.006
Jnhalts unmöglich; man hat das Gefühl, der Hörer würde den pmu_068.007
Vorleser mit Zurufen wie „zur Sache!“ unterbrechen. So bedingt auch pmu_068.008
für die Novelle die Art der Darbietung den Stil.
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Eine Form, die neuerdings in Aufnahme gekommen ist, stellt die pmu_068.010
Skizze dar, die meist ihre Reize aus besonderer Stimmungsfeinheit pmu_068.011
schöpft und die sich von der Novelle durch geringere Plastik der Handlung pmu_068.012
unterscheidet. Man kann in ihr die Prosaauflösung lyrischer Gedichte pmu_068.013
sehen. Trotz Turgeniew, Huysmans, Altenberg und andern hat die Skizze pmu_068.014
es jedoch noch nicht zu einer festen künstlerischen Form gebracht. Wie der pmu_068.015
Roman, die Prosaauflösung des Epos, ist die Skizze ein Produkt für den pmu_068.016
Druck, nicht für das Rezitieren, wie das eigentliche Lyrikon; in der Regel pmu_068.017
versagt sie daher auch beim Vorlesen.
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8. Die Lyrik ist im Gegensatz zu Dramatik und Epik die Kunst des pmu_068.019
subjektiven Gefühlsausdrucks. Kommt es jenen Gattungen vor allem auf pmu_068.020
gegenständliche Darstellung an, wogegen der subjektive Gefühlsausdruck pmu_068.021
zurücktritt, so überwiegt in der Lyrik die Subjektivität, und alles Gegenständliche pmu_068.022
hat rein symbolischen Wert, ist nichts an sich, sondern lebt nur pmu_068.023
als Jnkorporation der Gefühle des Dichters. Damit ist allerdings, wie pmu_068.024
überall, zuzugeben, daß die Grenze der Gattungen keine ganz scharfe ist; pmu_068.025
was hier als lyrisch bezeichnet wurde, ist nicht bloß eine Stilform der Darbietung, pmu_068.026
sondern eine der fundamentalen Verschiedenheiten im Verhalten pmu_068.027
des Dichters überhaupt, die wir oben als den Gegensatz zwischen Ausdrucks- pmu_068.028
und Gestaltungsdichter ausgeführt haben. Es kommen daher in pmu_068.029
Romanen und Epen Stellen genug vor, die wir als lyrisch bezeichnen können. pmu_068.030
Hier haben wir es indessen mit derjenigen Kunstform zu tun, die sich pmu_068.031
der lyrische Dichter als ihm besonders homogen geschaffen hat und wo er pmu_068.032
nicht ihm wesensfremde Stilgattungen vergewaltigt: der eigentlichen Lyrik.
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Für diese spezifische Form des Gefühlsausdrucks ist zunächst charakteristisch pmu_068.034
die Kürze. Diese ist nichts Äußerliches, sondern entspringt dem pmu_068.035
tiefsten Wesen dieser Kunst. Ein Gefühlsausdruck wirkt nämlich immer am pmu_068.036
stärksten, wenn er kurz und möglichst prägnant ist, während Geschwätzigkeit pmu_068.037
und übergroßer Wortreichtum jede Wirkung aufhebt. Der Erzähler pmu_068.038
wechselnder Geschehnisse kann in die Breite gehen, derjenige, der nur sein
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