Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_070.001 9. Je nach dem Gewichte des gegenständlichen Elementes in der Lyrik pmu_070.013 Jndessen glaube ich durch Beispiele das, was ich meine, am besten veranschaulichen pmu_070.024 pmu_070.001 9. Je nach dem Gewichte des gegenständlichen Elementes in der Lyrik pmu_070.013 Jndessen glaube ich durch Beispiele das, was ich meine, am besten veranschaulichen pmu_070.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0080" n="70"/><lb n="pmu_070.001"/> auch ein gegenständliches Element. Jndessen würde die Lyrik ihre beste <lb n="pmu_070.002"/> Wirkung verlieren, wenn sie nur die gegenständliche Seite pflegen wollte. <lb n="pmu_070.003"/> Das Jdeal ist natürlich völlige Harmonie zwischen musikalischen und <lb n="pmu_070.004"/> gegenständlichen Elementen; immerhin ist es aber noch eher möglich, bei <lb n="pmu_070.005"/> Vernachlässigung der gegenständlichen Klarheit als bei Vernachlässigung <lb n="pmu_070.006"/> der sprachlich-musikalischen Mittel gute Gedichte zu erzielen, und in der <lb n="pmu_070.007"/> Tat ist ja wiederholt in der deutschen Romantik, im Symbolismus usw. <lb n="pmu_070.008"/> die Zurückdrängung des Gegenständlichen als Forderung aufgetaucht. <lb n="pmu_070.009"/> <hi rendition="#aq">De la musique avant toute chose</hi>! — um mit Verlaine zu reden —, Kürze, <lb n="pmu_070.010"/> Prägnanz und möglichste Herausarbeitung aller musikalischen Elemente der <lb n="pmu_070.011"/> Sprache sind also die besonderen Bedingungen für die Wirkung der Lyrik.</p> <lb n="pmu_070.012"/> </div> <div n="3"> <p> 9. Je nach dem Gewichte des gegenständlichen Elementes in der Lyrik <lb n="pmu_070.013"/> kann man zwei Arten der Lyrik scheiden: die <hi rendition="#g">unmittelbare</hi> und die <lb n="pmu_070.014"/> <hi rendition="#g">mittelbare.</hi> Die erstere spricht direkt, von den rein akustischen Werten <lb n="pmu_070.015"/> der Sprache aufs stärkste unterstützt, das Gefühl aus. Die mittelbare Lyrik <lb n="pmu_070.016"/> gibt das Gefühl gleichsam nur in Spiegelung. Nicht auf direktem <lb n="pmu_070.017"/> Wege suggeriert hier der Dichter seine Gefühle dem Leser, sondern durch <lb n="pmu_070.018"/> dritte Elemente läßt er sie im Genießenden indirekt entstehen. Sei es, daß <lb n="pmu_070.019"/> er ein Landschaftsbild, sei es, daß er gefühlswirkende Ereignisse, die Symbole <lb n="pmu_070.020"/> sind für seine eigenen Gefühle, vor ihm aufrollt. Jmmer ist das Verfahren <lb n="pmu_070.021"/> indirekt. Je nach der bildmäßigen oder aktmäßigen Symbolik könnte <lb n="pmu_070.022"/> man da wieder von einer schildernden uud erzählenden Lyrik sprechen.</p> <lb n="pmu_070.023"/> <p> Jndessen glaube ich durch Beispiele das, was ich meine, am besten veranschaulichen <lb n="pmu_070.024"/> zu können. So gebe ich zunächst als Beispiel für unmittelbare <lb n="pmu_070.025"/> Lyrik Goethes „Mailied“. Der Dichter beginnt mit der direkten Aussprache <lb n="pmu_070.026"/> seines subjektiven Gefühls: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur!“ <lb n="pmu_070.027"/> Und später folgen beständige direkte Ausrufe: „Und Freud' und Wonne <lb n="pmu_070.028"/> aus jeder Brust. O Erd', o Sonne! O Glück, o Lust! — O Lieb', o Liebe! <lb n="pmu_070.029"/> so golden schön, wie Morgenwolken auf jenen Höh'n!“ usw. Man möge die <lb n="pmu_070.030"/> weiteren Ausrufe an Ort und Stelle nachlesen! Daneben unterbrechen <lb n="pmu_070.031"/> allerdings allerlei gegenständliche Sätze den reinen Gefühlsausdruck, aber <lb n="pmu_070.032"/> diese sind überall sekundär. Der Dichter hat sein Gefühl nicht, weil er die <lb n="pmu_070.033"/> Gegenstände sieht, sondern er sieht sie nur, weil sein Jnneres von jenem <lb n="pmu_070.034"/> mailichen Liebesglück überströmt, das nun in all diesen Dingen etwas wie <lb n="pmu_070.035"/> ein willkommenes Echo findet. „Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die <lb n="pmu_070.036"/> Flur! Es dringen Blüten aus jedem Zweig, und tausend Stimmen aus <lb n="pmu_070.037"/> dem Gesträuch.“ Alle diese Dinge <hi rendition="#g">erwecken</hi> nicht im Dichter erst das <lb n="pmu_070.038"/> Gefühl, sie <hi rendition="#g">verstärken</hi> im besten Falle nur das bereits vorhandene Gefühl </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0080]
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auch ein gegenständliches Element. Jndessen würde die Lyrik ihre beste pmu_070.002
Wirkung verlieren, wenn sie nur die gegenständliche Seite pflegen wollte. pmu_070.003
Das Jdeal ist natürlich völlige Harmonie zwischen musikalischen und pmu_070.004
gegenständlichen Elementen; immerhin ist es aber noch eher möglich, bei pmu_070.005
Vernachlässigung der gegenständlichen Klarheit als bei Vernachlässigung pmu_070.006
der sprachlich-musikalischen Mittel gute Gedichte zu erzielen, und in der pmu_070.007
Tat ist ja wiederholt in der deutschen Romantik, im Symbolismus usw. pmu_070.008
die Zurückdrängung des Gegenständlichen als Forderung aufgetaucht. pmu_070.009
De la musique avant toute chose! — um mit Verlaine zu reden —, Kürze, pmu_070.010
Prägnanz und möglichste Herausarbeitung aller musikalischen Elemente der pmu_070.011
Sprache sind also die besonderen Bedingungen für die Wirkung der Lyrik.
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9. Je nach dem Gewichte des gegenständlichen Elementes in der Lyrik pmu_070.013
kann man zwei Arten der Lyrik scheiden: die unmittelbare und die pmu_070.014
mittelbare. Die erstere spricht direkt, von den rein akustischen Werten pmu_070.015
der Sprache aufs stärkste unterstützt, das Gefühl aus. Die mittelbare Lyrik pmu_070.016
gibt das Gefühl gleichsam nur in Spiegelung. Nicht auf direktem pmu_070.017
Wege suggeriert hier der Dichter seine Gefühle dem Leser, sondern durch pmu_070.018
dritte Elemente läßt er sie im Genießenden indirekt entstehen. Sei es, daß pmu_070.019
er ein Landschaftsbild, sei es, daß er gefühlswirkende Ereignisse, die Symbole pmu_070.020
sind für seine eigenen Gefühle, vor ihm aufrollt. Jmmer ist das Verfahren pmu_070.021
indirekt. Je nach der bildmäßigen oder aktmäßigen Symbolik könnte pmu_070.022
man da wieder von einer schildernden uud erzählenden Lyrik sprechen.
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Jndessen glaube ich durch Beispiele das, was ich meine, am besten veranschaulichen pmu_070.024
zu können. So gebe ich zunächst als Beispiel für unmittelbare pmu_070.025
Lyrik Goethes „Mailied“. Der Dichter beginnt mit der direkten Aussprache pmu_070.026
seines subjektiven Gefühls: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur!“ pmu_070.027
Und später folgen beständige direkte Ausrufe: „Und Freud' und Wonne pmu_070.028
aus jeder Brust. O Erd', o Sonne! O Glück, o Lust! — O Lieb', o Liebe! pmu_070.029
so golden schön, wie Morgenwolken auf jenen Höh'n!“ usw. Man möge die pmu_070.030
weiteren Ausrufe an Ort und Stelle nachlesen! Daneben unterbrechen pmu_070.031
allerdings allerlei gegenständliche Sätze den reinen Gefühlsausdruck, aber pmu_070.032
diese sind überall sekundär. Der Dichter hat sein Gefühl nicht, weil er die pmu_070.033
Gegenstände sieht, sondern er sieht sie nur, weil sein Jnneres von jenem pmu_070.034
mailichen Liebesglück überströmt, das nun in all diesen Dingen etwas wie pmu_070.035
ein willkommenes Echo findet. „Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die pmu_070.036
Flur! Es dringen Blüten aus jedem Zweig, und tausend Stimmen aus pmu_070.037
dem Gesträuch.“ Alle diese Dinge erwecken nicht im Dichter erst das pmu_070.038
Gefühl, sie verstärken im besten Falle nur das bereits vorhandene Gefühl
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