Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_076.001 Unter allem auf der Bühne Sichtbaren sind die Bewegungen und pmu_076.017 13. Die wichtigsten Bedingtheiten der dramatischen Dichtung jedoch pmu_076.001 Unter allem auf der Bühne Sichtbaren sind die Bewegungen und pmu_076.017 13. Die wichtigsten Bedingtheiten der dramatischen Dichtung jedoch <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0086" n="76"/><lb n="pmu_076.001"/> zum sinnfälligen Ausdruck gelangt. So bekommt das Sichtbare, besonders <lb n="pmu_076.002"/> wenn es sich um bestimmte Gegenstände handelt, symbolischen Charakter. <lb n="pmu_076.003"/> Schon Äschylos war ein Meister im Erfinden solcher Szenen. Wie <lb n="pmu_076.004"/> symbolisieren sich, prachtvoll aufs Auge wirkend, die im Dialog sich äußernden <lb n="pmu_076.005"/> Gefühle und Geschehnisse in den Purpurteppichen, die Klytämnestra <lb n="pmu_076.006"/> vor dem heimkehrenden Agamemnon auf die Stufen breiten läßt, <lb n="pmu_076.007"/> oder in dem blutbefleckten Netz, das Orest den Furien hinhält. Und solche <lb n="pmu_076.008"/> Szenen lassen sich in allen großen Dramen finden bis herab auf die Winternachtszene <lb n="pmu_076.009"/> in John G. Borkman, wo die weite Schneenacht so herrlich <lb n="pmu_076.010"/> den Stimmungswechsel nach den dumpfen Stuben der früheren Akte <lb n="pmu_076.011"/> symbolisiert, oder die Szene im Florian Geyer, wo die Ritter ihre Messer <lb n="pmu_076.012"/> in die Tür stoßen. Und zwar pflegt die Einheit der Wirkung in allen solchen <lb n="pmu_076.013"/> Szenen so gewahrt zu werden, daß das Wort verarbeitet, was sich <lb n="pmu_076.014"/> dem Auge bietet, und die Szenerie sichtbar macht, was im Dialog anklingt. <lb n="pmu_076.015"/> Bleibt eines isoliert, so verpufft die Wirkung.</p> <lb n="pmu_076.016"/> <p> Unter allem auf der Bühne Sichtbaren sind die Bewegungen und <lb n="pmu_076.017"/> Gesten der Schauspieler weitaus das Wirksamste. Es liegt das darin, daß <lb n="pmu_076.018"/> eine gute Geste ja stets der sichtbare Ausdruck von Wort oder Gedanke <lb n="pmu_076.019"/> bzw. Gefühl ist. Und dann ferner findet die Geste darum die stärkste Resonanz <lb n="pmu_076.020"/> im Zuschauer, weil wir sie stets bis zu einem gewissen Grade <lb n="pmu_076.021"/> „innerlich nachahmen“ und so eine starke Suggestion auf uns übergeht. <lb n="pmu_076.022"/> Wir wissen es aus der modernen Psychologie, daß jede Bewegungsvorstellung, <lb n="pmu_076.023"/> auch jede Bewegungswahrnehmung unsre motorischen Nerven <lb n="pmu_076.024"/> anregt, und da die motorischen Vorgänge in uns wieder aufs engste verknüpft <lb n="pmu_076.025"/> sind mit dem Gefühlsleben, was besonders die James-Lange- <lb n="pmu_076.026"/> Ribotsche Theorie betont, so ist leicht einzusehen, daß von allen Bewegungen <lb n="pmu_076.027"/> eine besonders starke Wirkung ausgehen muß. Die Kunst des <lb n="pmu_076.028"/> großen Schauspielers ist es, solche suggestiven Gesten zu finden, und die <lb n="pmu_076.029"/> Kunst des echten dramatischen Dichters ist es, solche Szenen zu schaffen, <lb n="pmu_076.030"/> die dem Schauspieler gestatten, seine Mimik zu entfalten. Nicht umsonst <lb n="pmu_076.031"/> sind die größten Bühnendichter selber Schauspieler gewesen: Sophokles, <lb n="pmu_076.032"/> Shakespeare, Moli<hi rendition="#aq">è</hi>re. Und nichts pflegt einem von der Kunst großer <lb n="pmu_076.033"/> Schauspieler so dauernd im Gedächtnis zu haften als gerade ausdrucksvolle <lb n="pmu_076.034"/> Gesten und Haltungen, und es ist eine Erfahrungstatsache, daß diejenigen <lb n="pmu_076.035"/> Szenen die stärksten Wirkungen hinterlassen, die in sichtbarem <lb n="pmu_076.036"/> mimischen Geschehen sich entladen, was aus dem optisch-ideellen, meist auch <lb n="pmu_076.037"/> durchs Wort unterstützten Doppelcharakter alles Mimischen hervorgeht.</p> <lb n="pmu_076.038"/> </div> <div n="3"> <p> 13. Die wichtigsten Bedingtheiten der dramatischen Dichtung jedoch </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [76/0086]
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zum sinnfälligen Ausdruck gelangt. So bekommt das Sichtbare, besonders pmu_076.002
wenn es sich um bestimmte Gegenstände handelt, symbolischen Charakter. pmu_076.003
Schon Äschylos war ein Meister im Erfinden solcher Szenen. Wie pmu_076.004
symbolisieren sich, prachtvoll aufs Auge wirkend, die im Dialog sich äußernden pmu_076.005
Gefühle und Geschehnisse in den Purpurteppichen, die Klytämnestra pmu_076.006
vor dem heimkehrenden Agamemnon auf die Stufen breiten läßt, pmu_076.007
oder in dem blutbefleckten Netz, das Orest den Furien hinhält. Und solche pmu_076.008
Szenen lassen sich in allen großen Dramen finden bis herab auf die Winternachtszene pmu_076.009
in John G. Borkman, wo die weite Schneenacht so herrlich pmu_076.010
den Stimmungswechsel nach den dumpfen Stuben der früheren Akte pmu_076.011
symbolisiert, oder die Szene im Florian Geyer, wo die Ritter ihre Messer pmu_076.012
in die Tür stoßen. Und zwar pflegt die Einheit der Wirkung in allen solchen pmu_076.013
Szenen so gewahrt zu werden, daß das Wort verarbeitet, was sich pmu_076.014
dem Auge bietet, und die Szenerie sichtbar macht, was im Dialog anklingt. pmu_076.015
Bleibt eines isoliert, so verpufft die Wirkung.
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Unter allem auf der Bühne Sichtbaren sind die Bewegungen und pmu_076.017
Gesten der Schauspieler weitaus das Wirksamste. Es liegt das darin, daß pmu_076.018
eine gute Geste ja stets der sichtbare Ausdruck von Wort oder Gedanke pmu_076.019
bzw. Gefühl ist. Und dann ferner findet die Geste darum die stärkste Resonanz pmu_076.020
im Zuschauer, weil wir sie stets bis zu einem gewissen Grade pmu_076.021
„innerlich nachahmen“ und so eine starke Suggestion auf uns übergeht. pmu_076.022
Wir wissen es aus der modernen Psychologie, daß jede Bewegungsvorstellung, pmu_076.023
auch jede Bewegungswahrnehmung unsre motorischen Nerven pmu_076.024
anregt, und da die motorischen Vorgänge in uns wieder aufs engste verknüpft pmu_076.025
sind mit dem Gefühlsleben, was besonders die James-Lange- pmu_076.026
Ribotsche Theorie betont, so ist leicht einzusehen, daß von allen Bewegungen pmu_076.027
eine besonders starke Wirkung ausgehen muß. Die Kunst des pmu_076.028
großen Schauspielers ist es, solche suggestiven Gesten zu finden, und die pmu_076.029
Kunst des echten dramatischen Dichters ist es, solche Szenen zu schaffen, pmu_076.030
die dem Schauspieler gestatten, seine Mimik zu entfalten. Nicht umsonst pmu_076.031
sind die größten Bühnendichter selber Schauspieler gewesen: Sophokles, pmu_076.032
Shakespeare, Molière. Und nichts pflegt einem von der Kunst großer pmu_076.033
Schauspieler so dauernd im Gedächtnis zu haften als gerade ausdrucksvolle pmu_076.034
Gesten und Haltungen, und es ist eine Erfahrungstatsache, daß diejenigen pmu_076.035
Szenen die stärksten Wirkungen hinterlassen, die in sichtbarem pmu_076.036
mimischen Geschehen sich entladen, was aus dem optisch-ideellen, meist auch pmu_076.037
durchs Wort unterstützten Doppelcharakter alles Mimischen hervorgeht.
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13. Die wichtigsten Bedingtheiten der dramatischen Dichtung jedoch
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