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Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.

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erwachsen aus dem Umstande, daß sie nicht auf einen einzelnen, sondern pmu_077.002
auf eine tausendköpfige Masse zu wirken hat. Wir hatten bereits wiederholt pmu_077.003
Verwandtes auch bei der Ballade usw. zu berühren; beim Drama pmu_077.004
tritt jedoch dieser Umstand so in den Vordergrund, daß wir einiges über pmu_077.005
die Psychologie des Publikums hier einfügen müssen.

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Bekanntlich reagiert jeder Mensch, sobald er einer Masse angehört, pmu_077.007
ganz anders, als wenn er allein ist. Eine Masse ist erfahrungsgemäß nicht pmu_077.008
bloß eine Summe von Jndividuen, sondern ist etwas Neues, etwas, worin pmu_077.009
die in ihr aufgehenden Jndividuen ihre Eigenheit völlig verändern. pmu_077.010
Durch das Zusammensein werden gewisse Elemente des Seelenlebens pmu_077.011
verstärkt, andre dagegen unterdrückt, so daß eine völlige Verschiebung des pmu_077.012
Gleichgewichtes eintritt. Man hat die Masse mit einer chemischen Verbindung pmu_077.013
verglichen, die auch keine Summe der Elemente, sondern eine ganz pmu_077.014
neue Bildung ist. Jm allgemeinen kann man mit Le Bon sagen, daß die pmu_077.015
Hauptcharakteristika der Massenpsyche außerordentliche Erregbarkeit und pmu_077.016
Jmpulsivität sind. Die Jntelligenz vermindert sich, und die Gefühle erfahren pmu_077.017
eine durchgreifende Veränderung. Diese Veränderung kann je pmu_077.018
nach den Umständen moralisch gut oder schlecht sein; die Masse kann zu pmu_077.019
Heldentaten wie zu Verbrechen hingerissen werden. Die Hauptsache ist pmu_077.020
nur die gesteigerte Erregbarkeit, die sich nach allen Seiten hin ausbeuten pmu_077.021
läßt. Aus ihr resultieren die Leichtgläubigkeit, Überschwenglichkeit, die pmu_077.022
Jntoleranz, die Neigung zu Extremen, der Autoritarismus, die wir bei pmu_077.023
jeder Art von Masse wiederfinden -- jede Kritik fehlt. Nicht logische pmu_077.024
Schlüsse, sondern dasjenige, was die Phantasie am stärksten anregt, leitet die pmu_077.025
Masse. Widersprüche pflegen nicht zu stören, kurz, der Verstand ist in jeder pmu_077.026
Weise zurückgedrängt gegenüber dem Phantasieleben und dem Gefühle.

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Nun ist freilich das Theaterpublikum nicht unbedingt in derselben Weise pmu_077.028
als Masse anzusehen wie etwa eine politische oder religiöse Masse. Es pmu_077.029
fehlt eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen den Jndividuen, nämlich pmu_077.030
der gemeinsame Handlungsantrieb. Da die Jndividuen zu einer gewissen pmu_077.031
Untätigkeit und Ruhe gezwungen sind, können sich die Gefühle pmu_077.032
und Leidenschaften nicht in derselben Weise übertragen, wie das bei andern pmu_077.033
Gelegenheiten der Fall ist. Dennoch bleibt noch genug Massensuggestion pmu_077.034
übrig, und in der Tat zeigt das eine Analyse der wichtigsten Wirkungsformen pmu_077.035
der dramatischen Dichtkunst ganz deutlich.

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Auch für die Zuschauermasse können wir als Hauptmerkmale eine Steigerung pmu_077.037
des Gefühlslebens und eine gewisse Lahmlegung des logischen pmu_077.038
Denkens feststellen. Alles, was sich ans Gefühl wendet, wirkt daher auf

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erwachsen aus dem Umstande, daß sie nicht auf einen einzelnen, sondern pmu_077.002
auf eine tausendköpfige Masse zu wirken hat. Wir hatten bereits wiederholt pmu_077.003
Verwandtes auch bei der Ballade usw. zu berühren; beim Drama pmu_077.004
tritt jedoch dieser Umstand so in den Vordergrund, daß wir einiges über pmu_077.005
die Psychologie des Publikums hier einfügen müssen.

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Bekanntlich reagiert jeder Mensch, sobald er einer Masse angehört, pmu_077.007
ganz anders, als wenn er allein ist. Eine Masse ist erfahrungsgemäß nicht pmu_077.008
bloß eine Summe von Jndividuen, sondern ist etwas Neues, etwas, worin pmu_077.009
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Durch das Zusammensein werden gewisse Elemente des Seelenlebens pmu_077.011
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eine durchgreifende Veränderung. Diese Veränderung kann je pmu_077.018
nach den Umständen moralisch gut oder schlecht sein; die Masse kann zu pmu_077.019
Heldentaten wie zu Verbrechen hingerissen werden. Die Hauptsache ist pmu_077.020
nur die gesteigerte Erregbarkeit, die sich nach allen Seiten hin ausbeuten pmu_077.021
läßt. Aus ihr resultieren die Leichtgläubigkeit, Überschwenglichkeit, die pmu_077.022
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jeder Art von Masse wiederfinden — jede Kritik fehlt. Nicht logische pmu_077.024
Schlüsse, sondern dasjenige, was die Phantasie am stärksten anregt, leitet die pmu_077.025
Masse. Widersprüche pflegen nicht zu stören, kurz, der Verstand ist in jeder pmu_077.026
Weise zurückgedrängt gegenüber dem Phantasieleben und dem Gefühle.

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Nun ist freilich das Theaterpublikum nicht unbedingt in derselben Weise pmu_077.028
als Masse anzusehen wie etwa eine politische oder religiöse Masse. Es pmu_077.029
fehlt eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen den Jndividuen, nämlich pmu_077.030
der gemeinsame Handlungsantrieb. Da die Jndividuen zu einer gewissen pmu_077.031
Untätigkeit und Ruhe gezwungen sind, können sich die Gefühle pmu_077.032
und Leidenschaften nicht in derselben Weise übertragen, wie das bei andern pmu_077.033
Gelegenheiten der Fall ist. Dennoch bleibt noch genug Massensuggestion pmu_077.034
übrig, und in der Tat zeigt das eine Analyse der wichtigsten Wirkungsformen pmu_077.035
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Auch für die Zuschauermasse können wir als Hauptmerkmale eine Steigerung pmu_077.037
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Zitationshilfe: Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_poetik_1914/87>, abgerufen am 18.12.2024.