Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_080.001 Diese Darstellung des Dramas als eines Kampfgeschehens ist indessen pmu_080.012 pmu_080.001 Diese Darstellung des Dramas als eines Kampfgeschehens ist indessen pmu_080.012 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0090" n="80"/><lb n="pmu_080.001"/> in die kleinste Einzelheit herab eine solche kämpferische Zuspitzung habe <lb n="pmu_080.002"/> und so im kleinen von demselben Rhythmus erfüllt sei, den das Drama <lb n="pmu_080.003"/> im großen habe. Man betrachte z. B., wie im König Ödipus alles diese <lb n="pmu_080.004"/> Kampfstellung annimmt, wie selbst Szenen, die an sich gar nicht notwendig <lb n="pmu_080.005"/> diese Form zu haben brauchten, beim echten Theatermann diese <lb n="pmu_080.006"/> Stellung annehmen. So macht Sophokles aus der Szene, wo Teiresias <lb n="pmu_080.007"/> dem Ödipus sein Schicksal enthüllt, eine leidenschaftliche Konfliktsszene <lb n="pmu_080.008"/> und erreicht dadurch sofort stärkste dramatische Wirkung, weil das Publikum <lb n="pmu_080.009"/> sofort Partei ergreift, für und wider fühlt und damit hineingerissen <lb n="pmu_080.010"/> wird in den Strom des Geschehens.</p> <lb n="pmu_080.011"/> <p> Diese Darstellung des Dramas als eines Kampfgeschehens ist indessen <lb n="pmu_080.012"/> nur eine empirische Ableitung daraus, daß auf die Massenpsyche nichts so <lb n="pmu_080.013"/> sehr wirkt als ein Kampf. Jch gebe also hier keinerlei Metaphysik. Diese <lb n="pmu_080.014"/> nämlich ist gerade bei der Theorie des Dramas und speziell der Tragödie <lb n="pmu_080.015"/> oft genug angerufen worden, besonders veranlaßt durch die Theorien <lb n="pmu_080.016"/> Hegels, der am richtigsten und klarsten zuerst wohl den Charakter des <lb n="pmu_080.017"/> Dramas als eines Kampfes erkannt hat. Seine Schüler haben diese Erkenntnis <lb n="pmu_080.018"/> dann immer mehr verabsolutiert und zum <hi rendition="#aq">a priori</hi> erhoben. So <lb n="pmu_080.019"/> hat dies besonders der in seinem Denken von Hegel stark abhängige Hebbel <lb n="pmu_080.020"/> getan, der die empirische Tatsache des Kampfcharakters alles Dramatischen <lb n="pmu_080.021"/> mit kühner Metaphysik umkleidet hat. So wird das Drama zum Symbol <lb n="pmu_080.022"/> des Lebensprozesses an sich gemacht, und zwar in dem Sinne, „daß es <lb n="pmu_080.023"/> uns das Verhältnis vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprünglichen <lb n="pmu_080.024"/> Nexus entlassene Jndividuum dem Ganzen, dessen Teil es trotz seiner <lb n="pmu_080.025"/> unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenübersteht“. — <lb n="pmu_080.026"/> „Nur dadurch, daß es uns veranschaulicht, wie das Jndividuum im Kampf <lb n="pmu_080.027"/> zwischen seinem persönlichen und dem allgemeinen Weltwillen, der die <lb n="pmu_080.028"/> Tat, den Ausdruck der Freiheit, immer durch die Begebenheit, den Ausdruck <lb n="pmu_080.029"/> der Notwendigkeit modifiziert und umgestaltet, seine Form und <lb n="pmu_080.030"/> seinen Schwerpunkt gewinnt und daß es uns so die Natur des menschlichen <lb n="pmu_080.031"/> Handelns klar macht, das beständig, so wie es ein inneres Motiv zu manifestieren <lb n="pmu_080.032"/> sucht, zugleich ein widersprechendes, auf Herstellung des Gleichgewichts <lb n="pmu_080.033"/> berechnetes Äußeres entbindet — nur dadurch wird das Drama <lb n="pmu_080.034"/> lebendig.“ — Wir sehen hier das Bestreben des Dichters, seinem Werke <lb n="pmu_080.035"/> die höchste Würde zu verleihen, indem er seine Wirkungen ins Absolute <lb n="pmu_080.036"/> und Metaphysische erhebt. Dagegen ist gewiß nichts zu sagen, nur wird <lb n="pmu_080.037"/> man vom Standpunkt der empirischen Wissenschaft den aprioristischen <lb n="pmu_080.038"/> Charakter dieser Aufstellungen angreifen müssen. Es ist richtig, daß das </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [80/0090]
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in die kleinste Einzelheit herab eine solche kämpferische Zuspitzung habe pmu_080.002
und so im kleinen von demselben Rhythmus erfüllt sei, den das Drama pmu_080.003
im großen habe. Man betrachte z. B., wie im König Ödipus alles diese pmu_080.004
Kampfstellung annimmt, wie selbst Szenen, die an sich gar nicht notwendig pmu_080.005
diese Form zu haben brauchten, beim echten Theatermann diese pmu_080.006
Stellung annehmen. So macht Sophokles aus der Szene, wo Teiresias pmu_080.007
dem Ödipus sein Schicksal enthüllt, eine leidenschaftliche Konfliktsszene pmu_080.008
und erreicht dadurch sofort stärkste dramatische Wirkung, weil das Publikum pmu_080.009
sofort Partei ergreift, für und wider fühlt und damit hineingerissen pmu_080.010
wird in den Strom des Geschehens.
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Diese Darstellung des Dramas als eines Kampfgeschehens ist indessen pmu_080.012
nur eine empirische Ableitung daraus, daß auf die Massenpsyche nichts so pmu_080.013
sehr wirkt als ein Kampf. Jch gebe also hier keinerlei Metaphysik. Diese pmu_080.014
nämlich ist gerade bei der Theorie des Dramas und speziell der Tragödie pmu_080.015
oft genug angerufen worden, besonders veranlaßt durch die Theorien pmu_080.016
Hegels, der am richtigsten und klarsten zuerst wohl den Charakter des pmu_080.017
Dramas als eines Kampfes erkannt hat. Seine Schüler haben diese Erkenntnis pmu_080.018
dann immer mehr verabsolutiert und zum a priori erhoben. So pmu_080.019
hat dies besonders der in seinem Denken von Hegel stark abhängige Hebbel pmu_080.020
getan, der die empirische Tatsache des Kampfcharakters alles Dramatischen pmu_080.021
mit kühner Metaphysik umkleidet hat. So wird das Drama zum Symbol pmu_080.022
des Lebensprozesses an sich gemacht, und zwar in dem Sinne, „daß es pmu_080.023
uns das Verhältnis vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprünglichen pmu_080.024
Nexus entlassene Jndividuum dem Ganzen, dessen Teil es trotz seiner pmu_080.025
unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenübersteht“. — pmu_080.026
„Nur dadurch, daß es uns veranschaulicht, wie das Jndividuum im Kampf pmu_080.027
zwischen seinem persönlichen und dem allgemeinen Weltwillen, der die pmu_080.028
Tat, den Ausdruck der Freiheit, immer durch die Begebenheit, den Ausdruck pmu_080.029
der Notwendigkeit modifiziert und umgestaltet, seine Form und pmu_080.030
seinen Schwerpunkt gewinnt und daß es uns so die Natur des menschlichen pmu_080.031
Handelns klar macht, das beständig, so wie es ein inneres Motiv zu manifestieren pmu_080.032
sucht, zugleich ein widersprechendes, auf Herstellung des Gleichgewichts pmu_080.033
berechnetes Äußeres entbindet — nur dadurch wird das Drama pmu_080.034
lebendig.“ — Wir sehen hier das Bestreben des Dichters, seinem Werke pmu_080.035
die höchste Würde zu verleihen, indem er seine Wirkungen ins Absolute pmu_080.036
und Metaphysische erhebt. Dagegen ist gewiß nichts zu sagen, nur wird pmu_080.037
man vom Standpunkt der empirischen Wissenschaft den aprioristischen pmu_080.038
Charakter dieser Aufstellungen angreifen müssen. Es ist richtig, daß das
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