Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_085.001 Wenn wir diese akustisch-motorischen Elemente als "subjektiv" bezeichnen, pmu_085.004 Wir behaupten nun, daß jeder Vers dem Leser eine bis zu einem gewissen pmu_085.023 Die Mittel, durch die der Vers ein solches gehobenes Sprechen provoziert, pmu_085.036 pmu_085.001 Wenn wir diese akustisch-motorischen Elemente als „subjektiv“ bezeichnen, pmu_085.004 Wir behaupten nun, daß jeder Vers dem Leser eine bis zu einem gewissen pmu_085.023 Die Mittel, durch die der Vers ein solches gehobenes Sprechen provoziert, pmu_085.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0095" n="85"/><lb n="pmu_085.001"/> akustisch-motorischen Elemente des Verslesens entsteht, die sich <lb n="pmu_085.002"/> natürlich auch beim Leiselesen geltend machen.</p> <lb n="pmu_085.003"/> <p> Wenn wir diese akustisch-motorischen Elemente als „subjektiv“ bezeichnen, <lb n="pmu_085.004"/> so ist das natürlich nicht etwa im Sinne von „willkürlich“ zu fassen. <lb n="pmu_085.005"/> Allerdings bleibt der Jndividualität stets ein gewisser Spielraum, indessen <lb n="pmu_085.006"/> haben die Untersuchungen von Sievers und seinen Schülern nachgewiesen, <lb n="pmu_085.007"/> daß auch die subjektive Jnterpretation des Verses durch die im <lb n="pmu_085.008"/> Druck vorliegenden Elemente bis zu einem gewissen Grade eindeutig bestimmt <lb n="pmu_085.009"/> ist. Besonders für die Sprachmelodie haben die Sieversschen <lb n="pmu_085.010"/> Untersuchungen ganz überraschende Resultate ergeben. Dasselbe aber <lb n="pmu_085.011"/> gilt, das kann ja die alltägliche Beobachtung bereits lehren, auch von <lb n="pmu_085.012"/> allen denjenigen Vortragselementen, die durch die <hi rendition="#g">Bedeutung</hi> der Worte <lb n="pmu_085.013"/> bedingt sind, die ich — ähnlich wie Saran — kurz als das <hi rendition="#g">Ethos</hi> des Verses <lb n="pmu_085.014"/> bezeichnen will und die natürlich vom Melos nie ganz zu trennen ist. Jeder, <lb n="pmu_085.015"/> der die deutsche Sprache versteht, wird das Goethische „Über allen Wipfeln <lb n="pmu_085.016"/> ist Ruh'“ mit einem völlig andern Ethos lesen als etwa Heines „Ein <lb n="pmu_085.017"/> Jüngling liebt ein Mädchen“. Es läßt sich also sagen, daß nicht nur die aus <lb n="pmu_085.018"/> dem Schriftbild erkennbaren Dinge wie Rhythmik und Silbenzahl eindeutig <lb n="pmu_085.019"/> bestimmt sind, sondern ebenso Melos und Ethos, obwohl natürlich der <lb n="pmu_085.020"/> Jndividualität ein gewisser Spielraum dabei bleibt, was aber ja auch <lb n="pmu_085.021"/> bei der Auffassung der Rhythmik usw. der Fall zu sein pflegt.</p> <lb n="pmu_085.022"/> <p> Wir behaupten nun, daß jeder Vers dem Leser eine bis zu einem gewissen <lb n="pmu_085.023"/> Grade bestimmte Vortragsweise aufzwingt und daß diese es ist, <lb n="pmu_085.024"/> die die Gefühlswirkung im Hörer hervorruft. Beim Leiselesen ist man <lb n="pmu_085.025"/> natürlich Leser und Hörer in derselben Person; sonst gilt auch hier das <lb n="pmu_085.026"/> gleiche. Jeder Vers veranlaßt uns, auch ohne daß wir es beabsichtigen, <lb n="pmu_085.027"/> zu einem gehobenen Sprechen, wovon die nächstliegende Selbstbeobachtung <lb n="pmu_085.028"/> uns überzeugen kann. Unterdrücken wir diese gehobene Sprechweise <lb n="pmu_085.029"/> absichtlich, das heißt, lesen wir die Verse mit gewollter Unterdrückung des <lb n="pmu_085.030"/> spezifischen Melos und Ethos und mit Vernachlässigung der Rhythmik als <lb n="pmu_085.031"/> Prosa, so wird auch sofort jede poetische Wirkung durch die Sprache ausbleiben. <lb n="pmu_085.032"/> Sonst aber können wir behaupten, daß dies durch den Vers bedingte <lb n="pmu_085.033"/> gehobene Sprechen (neben dem Jnhalt) die Gefühlswirkung des <lb n="pmu_085.034"/> Poetischen erzeugt.</p> <lb n="pmu_085.035"/> <p> Die Mittel, durch die der Vers ein solches gehobenes Sprechen provoziert, <lb n="pmu_085.036"/> sind teils äußere, teils innere. Die äußeren bestehen schon in der <lb n="pmu_085.037"/> Druckanordnung, der Abteilung in Verse und Strophen, auch dem Reim <lb n="pmu_085.038"/> usw., lauter Mitteln, durch die wir erkennen, daß wir es mit Versen zu </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [85/0095]
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akustisch-motorischen Elemente des Verslesens entsteht, die sich pmu_085.002
natürlich auch beim Leiselesen geltend machen.
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Wenn wir diese akustisch-motorischen Elemente als „subjektiv“ bezeichnen, pmu_085.004
so ist das natürlich nicht etwa im Sinne von „willkürlich“ zu fassen. pmu_085.005
Allerdings bleibt der Jndividualität stets ein gewisser Spielraum, indessen pmu_085.006
haben die Untersuchungen von Sievers und seinen Schülern nachgewiesen, pmu_085.007
daß auch die subjektive Jnterpretation des Verses durch die im pmu_085.008
Druck vorliegenden Elemente bis zu einem gewissen Grade eindeutig bestimmt pmu_085.009
ist. Besonders für die Sprachmelodie haben die Sieversschen pmu_085.010
Untersuchungen ganz überraschende Resultate ergeben. Dasselbe aber pmu_085.011
gilt, das kann ja die alltägliche Beobachtung bereits lehren, auch von pmu_085.012
allen denjenigen Vortragselementen, die durch die Bedeutung der Worte pmu_085.013
bedingt sind, die ich — ähnlich wie Saran — kurz als das Ethos des Verses pmu_085.014
bezeichnen will und die natürlich vom Melos nie ganz zu trennen ist. Jeder, pmu_085.015
der die deutsche Sprache versteht, wird das Goethische „Über allen Wipfeln pmu_085.016
ist Ruh'“ mit einem völlig andern Ethos lesen als etwa Heines „Ein pmu_085.017
Jüngling liebt ein Mädchen“. Es läßt sich also sagen, daß nicht nur die aus pmu_085.018
dem Schriftbild erkennbaren Dinge wie Rhythmik und Silbenzahl eindeutig pmu_085.019
bestimmt sind, sondern ebenso Melos und Ethos, obwohl natürlich der pmu_085.020
Jndividualität ein gewisser Spielraum dabei bleibt, was aber ja auch pmu_085.021
bei der Auffassung der Rhythmik usw. der Fall zu sein pflegt.
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Wir behaupten nun, daß jeder Vers dem Leser eine bis zu einem gewissen pmu_085.023
Grade bestimmte Vortragsweise aufzwingt und daß diese es ist, pmu_085.024
die die Gefühlswirkung im Hörer hervorruft. Beim Leiselesen ist man pmu_085.025
natürlich Leser und Hörer in derselben Person; sonst gilt auch hier das pmu_085.026
gleiche. Jeder Vers veranlaßt uns, auch ohne daß wir es beabsichtigen, pmu_085.027
zu einem gehobenen Sprechen, wovon die nächstliegende Selbstbeobachtung pmu_085.028
uns überzeugen kann. Unterdrücken wir diese gehobene Sprechweise pmu_085.029
absichtlich, das heißt, lesen wir die Verse mit gewollter Unterdrückung des pmu_085.030
spezifischen Melos und Ethos und mit Vernachlässigung der Rhythmik als pmu_085.031
Prosa, so wird auch sofort jede poetische Wirkung durch die Sprache ausbleiben. pmu_085.032
Sonst aber können wir behaupten, daß dies durch den Vers bedingte pmu_085.033
gehobene Sprechen (neben dem Jnhalt) die Gefühlswirkung des pmu_085.034
Poetischen erzeugt.
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Die Mittel, durch die der Vers ein solches gehobenes Sprechen provoziert, pmu_085.036
sind teils äußere, teils innere. Die äußeren bestehen schon in der pmu_085.037
Druckanordnung, der Abteilung in Verse und Strophen, auch dem Reim pmu_085.038
usw., lauter Mitteln, durch die wir erkennen, daß wir es mit Versen zu
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