Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_084.001 4. Es kann nicht als Aufgabe einer allgemeinen Poetik gelten, in subtile pmu_084.004 Jn der Tat scheint uns nur von dieser Seite her es möglich, eine Erklärung pmu_084.023 pmu_084.001 4. Es kann nicht als Aufgabe einer allgemeinen Poetik gelten, in subtile pmu_084.004 Jn der Tat scheint uns nur von dieser Seite her es möglich, eine Erklärung pmu_084.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0094" n="84"/><lb n="pmu_084.001"/> sprachlichen Kunstmittel besser am Verse studieren, wo die bewußte Ausprägung <lb n="pmu_084.002"/> ein prägnanteres Material bietet.</p> <lb n="pmu_084.003"/> </div> <div n="3"> <p> 4. Es kann nicht als Aufgabe einer allgemeinen Poetik gelten, in subtile <lb n="pmu_084.004"/> Untersuchungen einzelner Versarten einzutreten; das muß der speziellen <lb n="pmu_084.005"/> Metrik überlassen bleiben. Hier können wir nur einige ganz allgemeine <lb n="pmu_084.006"/> psychologische Fragen aufwerfen und zu beantworten suchen, die <lb n="pmu_084.007"/> sich mit der Wirkung der poetischen Sprache überhaupt beschäftigen, die <lb n="pmu_084.008"/> jedoch merkwürdigerweise bisher wenig erörtert worden sind. Die meisten <lb n="pmu_084.009"/> Metriken nehmen die Wirkung des Verses schlechthin als gegeben, ohne <lb n="pmu_084.010"/> nach den Gründen dieser Wirkung zu fragen, und doch liegt hier ein sehr <lb n="pmu_084.011"/> schwieriges Problem. Meist begnügt man sich mit einer <hi rendition="#g">genetischen</hi> Erklärung, <lb n="pmu_084.012"/> der Zurückführung des poetischen Rhythmus auf Tanz und Musik <lb n="pmu_084.013"/> usw., was aber alles noch keine <hi rendition="#g">psychologische</hi> Deutung jener schwierigen <lb n="pmu_084.014"/> Frage ist. Die frühere Metrik konnte allerdings von ihrem Standpunkte <lb n="pmu_084.015"/> aus dieser Frage kaum nahe treten; denn sie untersuchte einseitig <lb n="pmu_084.016"/> die „objektiven“ Gegebenheiten, d. h. dasjenige, was im Druck <lb n="pmu_084.017"/> schwarz auf weiß vom Verse vorlag. Das allerdings reichte nicht aus, <lb n="pmu_084.018"/> und es hat sich neuerdings mit großem Erfolge gegen jene „Augenphilologie“ <lb n="pmu_084.019"/> eine Reaktion geltend gemacht, die von E. Sievers besonders ausging <lb n="pmu_084.020"/> und die auch die subjektiven Faktoren, vor allem die Sprachmelodie, <lb n="pmu_084.021"/> in den Kreis der Betrachtungen zog.</p> <lb n="pmu_084.022"/> <p> Jn der Tat scheint uns nur von dieser Seite her es möglich, eine Erklärung <lb n="pmu_084.023"/> für jene Grundlage zu gewinnen. Was von einer Ästhetik, die <lb n="pmu_084.024"/> nur das „Objektive“, d. h. das bloß mit den Augen Lesbare des Verses <lb n="pmu_084.025"/> berücksichtigte, an Prinzipien aufgestellt wurde, die Einheit in der Mannigfaltigkeit <lb n="pmu_084.026"/> usw., schiebt das Problem nur zurück, erklärt es aber nicht; <lb n="pmu_084.027"/> denn es wird sich dann die Frage erheben: Warum gefällt die Einheit in <lb n="pmu_084.028"/> der Mannigfaltigkeit?, und daneben wird sich sofort das Bedenken einstellen, <lb n="pmu_084.029"/> daß die Antwort im Bewußtsein kaum gesucht werden kann, da die <lb n="pmu_084.030"/> meisten Versleser gar keine Einheit in der Mannigfaltigkeit wahrnehmen. <lb n="pmu_084.031"/> Daß sie indessen doch von Bedeutung ist, zeigen wir später. — Durch <lb n="pmu_084.032"/> ein einfaches Experiment kann man sich überzeugen, daß das Auge allein <lb n="pmu_084.033"/> keine Verswirkung auszulösen vermag. Man klemme die Zunge fest <lb n="pmu_084.034"/> zwischen die Zähne, versuche jede Jnnervation der Sprechbewegungen <lb n="pmu_084.035"/> zu unterdrücken (was sich auch auf den Kehlkopf usw. erstrecken muß und <lb n="pmu_084.036"/> nicht ganz leicht auszuführen ist): man wird dann finden, daß keine der <lb n="pmu_084.037"/> sonst vom gesprochenen Verse ausgehenden Gefühlswirkungen eintreten. <lb n="pmu_084.038"/> Damit wäre bewiesen, daß die Wirkung des Verses erst durch die subjektiven, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [84/0094]
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sprachlichen Kunstmittel besser am Verse studieren, wo die bewußte Ausprägung pmu_084.002
ein prägnanteres Material bietet.
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4. Es kann nicht als Aufgabe einer allgemeinen Poetik gelten, in subtile pmu_084.004
Untersuchungen einzelner Versarten einzutreten; das muß der speziellen pmu_084.005
Metrik überlassen bleiben. Hier können wir nur einige ganz allgemeine pmu_084.006
psychologische Fragen aufwerfen und zu beantworten suchen, die pmu_084.007
sich mit der Wirkung der poetischen Sprache überhaupt beschäftigen, die pmu_084.008
jedoch merkwürdigerweise bisher wenig erörtert worden sind. Die meisten pmu_084.009
Metriken nehmen die Wirkung des Verses schlechthin als gegeben, ohne pmu_084.010
nach den Gründen dieser Wirkung zu fragen, und doch liegt hier ein sehr pmu_084.011
schwieriges Problem. Meist begnügt man sich mit einer genetischen Erklärung, pmu_084.012
der Zurückführung des poetischen Rhythmus auf Tanz und Musik pmu_084.013
usw., was aber alles noch keine psychologische Deutung jener schwierigen pmu_084.014
Frage ist. Die frühere Metrik konnte allerdings von ihrem Standpunkte pmu_084.015
aus dieser Frage kaum nahe treten; denn sie untersuchte einseitig pmu_084.016
die „objektiven“ Gegebenheiten, d. h. dasjenige, was im Druck pmu_084.017
schwarz auf weiß vom Verse vorlag. Das allerdings reichte nicht aus, pmu_084.018
und es hat sich neuerdings mit großem Erfolge gegen jene „Augenphilologie“ pmu_084.019
eine Reaktion geltend gemacht, die von E. Sievers besonders ausging pmu_084.020
und die auch die subjektiven Faktoren, vor allem die Sprachmelodie, pmu_084.021
in den Kreis der Betrachtungen zog.
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Jn der Tat scheint uns nur von dieser Seite her es möglich, eine Erklärung pmu_084.023
für jene Grundlage zu gewinnen. Was von einer Ästhetik, die pmu_084.024
nur das „Objektive“, d. h. das bloß mit den Augen Lesbare des Verses pmu_084.025
berücksichtigte, an Prinzipien aufgestellt wurde, die Einheit in der Mannigfaltigkeit pmu_084.026
usw., schiebt das Problem nur zurück, erklärt es aber nicht; pmu_084.027
denn es wird sich dann die Frage erheben: Warum gefällt die Einheit in pmu_084.028
der Mannigfaltigkeit?, und daneben wird sich sofort das Bedenken einstellen, pmu_084.029
daß die Antwort im Bewußtsein kaum gesucht werden kann, da die pmu_084.030
meisten Versleser gar keine Einheit in der Mannigfaltigkeit wahrnehmen. pmu_084.031
Daß sie indessen doch von Bedeutung ist, zeigen wir später. — Durch pmu_084.032
ein einfaches Experiment kann man sich überzeugen, daß das Auge allein pmu_084.033
keine Verswirkung auszulösen vermag. Man klemme die Zunge fest pmu_084.034
zwischen die Zähne, versuche jede Jnnervation der Sprechbewegungen pmu_084.035
zu unterdrücken (was sich auch auf den Kehlkopf usw. erstrecken muß und pmu_084.036
nicht ganz leicht auszuführen ist): man wird dann finden, daß keine der pmu_084.037
sonst vom gesprochenen Verse ausgehenden Gefühlswirkungen eintreten. pmu_084.038
Damit wäre bewiesen, daß die Wirkung des Verses erst durch die subjektiven,
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