ten und Werke jener Zeit, den wir ja in allen unsern gegenwärtigen Staaten, in eben so vie- len handgreiflichen und leserlichen Spuren, als die sich von der Römischen Gesetzgebung nur vorfinden mögen, ausgedrückt finden.
Diese Sitten des Mittelalters zeigen mir eine sonderbare und gegen den Geist der antiken Ge- setze sehr contrastirende, ehrfurchtsvolle Scheu vor der unsichtbaren Gewalt, welche die Natur dem weiblichen Geschlechte gegeben hat. Wie die al- ten Verfassungen alle auf Gewalt und Zwang gebauet waren, so zeigt sich jetzt in Religion und Sitten eine ganz andre Grundlage der bür- gerlichen Gesellschaft: die Liebe und der Reitz. -- Wie damals die väterliche Gewalt, so wird jetzt das eheliche Verhältniß das Schema der Gesetz- gebung, einer Gesetzgebung, die noch heut zu Tage neben den geschriebenen Gesetzen, die viel- mehr aus der Griechisch-Römischen Welt her- rühren, unter der Gestalt der Ehrengesetze, her läuft und sich von keinem Tribunale des Buch- stabens, auch von keiner Polizei-Anstalt, hat bezwingen lassen.
Das ist die große Wiederherstellung der bür- gerlichen Gesellschaft, welche die christliche Reli- gion begründet hat! Er, der in Knechtsgestalt in die Welt gekommen war, führte lange Jahrhun-
ten und Werke jener Zeit, den wir ja in allen unſern gegenwaͤrtigen Staaten, in eben ſo vie- len handgreiflichen und leſerlichen Spuren, als die ſich von der Roͤmiſchen Geſetzgebung nur vorfinden moͤgen, ausgedruͤckt finden.
Dieſe Sitten des Mittelalters zeigen mir eine ſonderbare und gegen den Geiſt der antiken Ge- ſetze ſehr contraſtirende, ehrfurchtsvolle Scheu vor der unſichtbaren Gewalt, welche die Natur dem weiblichen Geſchlechte gegeben hat. Wie die al- ten Verfaſſungen alle auf Gewalt und Zwang gebauet waren, ſo zeigt ſich jetzt in Religion und Sitten eine ganz andre Grundlage der buͤr- gerlichen Geſellſchaft: die Liebe und der Reitz. — Wie damals die vaͤterliche Gewalt, ſo wird jetzt das eheliche Verhaͤltniß das Schema der Geſetz- gebung, einer Geſetzgebung, die noch heut zu Tage neben den geſchriebenen Geſetzen, die viel- mehr aus der Griechiſch-Roͤmiſchen Welt her- ruͤhren, unter der Geſtalt der Ehrengeſetze, her laͤuft und ſich von keinem Tribunale des Buch- ſtabens, auch von keiner Polizei-Anſtalt, hat bezwingen laſſen.
Das iſt die große Wiederherſtellung der buͤr- gerlichen Geſellſchaft, welche die chriſtliche Reli- gion begruͤndet hat! Er, der in Knechtsgeſtalt in die Welt gekommen war, fuͤhrte lange Jahrhun-
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ten und Werke jener Zeit, den wir ja in allen
unſern gegenwaͤrtigen Staaten, in eben ſo vie-
len handgreiflichen und leſerlichen Spuren, als
die ſich von der Roͤmiſchen Geſetzgebung nur
vorfinden moͤgen, ausgedruͤckt finden.
Dieſe Sitten des Mittelalters zeigen mir eine
ſonderbare und gegen den Geiſt der antiken Ge-
ſetze ſehr contraſtirende, ehrfurchtsvolle Scheu vor
der unſichtbaren Gewalt, welche die Natur dem
weiblichen Geſchlechte gegeben hat. Wie die al-
ten Verfaſſungen alle auf Gewalt und Zwang
gebauet waren, ſo zeigt ſich jetzt in Religion
und Sitten eine ganz andre Grundlage der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft: die Liebe und der Reitz. —
Wie damals die vaͤterliche Gewalt, ſo wird jetzt
das eheliche Verhaͤltniß das Schema der Geſetz-
gebung, einer Geſetzgebung, die noch heut zu
Tage neben den geſchriebenen Geſetzen, die viel-
mehr aus der Griechiſch-Roͤmiſchen Welt her-
ruͤhren, unter der Geſtalt der Ehrengeſetze, her
laͤuft und ſich von keinem Tribunale des Buch-
ſtabens, auch von keiner Polizei-Anſtalt, hat
bezwingen laſſen.
Das iſt die große Wiederherſtellung der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft, welche die chriſtliche Reli-
gion begruͤndet hat! Er, der in Knechtsgeſtalt in
die Welt gekommen war, fuͤhrte lange Jahrhun-
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/180>, abgerufen am 24.11.2024.
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