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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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gemeines weltliches Mittel vorgebeugt werden
kann.

Lassen Sie uns zu der hier gegebenen Theorie
des Prozesses ein Beispiel nach einem großen
Maßstabe wählen, einen völkerrechtlichen Pro-
zeß zwischen zwei großen, unabhängigen Natio-
nen. Dieser Fall ist um so lehrreicher, da hier
ein eigentlicher, handgreiflicher Richter noch nicht
vorhanden ist, vielmehr ein solcher erst eingesetzt
werden soll. Jede von den beiden Nationen
hat ein besonderes Interesse und ein allgemeines,
dieses letztere möge nun, wie im Mittelalter,
christliche Religion, oder, wie späterhin,
Recht oder Gleichgewicht heißen. Die Un-
terhandlung fängt an mit oder ohne Mediation
einer dritten Macht; die ehemaligen Verträge
zwischen den beiden Nationen werden zum Grunde
gelegt. Was sind diese Verträge? Urtheilssprü-
che eines unsichtbaren Richters, durch welche
frühere Streitigkeiten beigelegt worden. Sie sind
redende Beweise, daß damals jede von den bei-
den Mächten in das Interesse der andern Par-
thei eingangangen ist, daß die Abgesandten bei-
der Partheien oftmals ihre Plätze vertauscht
haben, daß jeder von den beiden Advocaten oft-
mals aus dem Standpunkte der andern Parthei
sein eignes Interesse betrachtet und vertheidigt

gemeines weltliches Mittel vorgebeugt werden
kann.

Laſſen Sie uns zu der hier gegebenen Theorie
des Prozeſſes ein Beiſpiel nach einem großen
Maßſtabe waͤhlen, einen voͤlkerrechtlichen Pro-
zeß zwiſchen zwei großen, unabhaͤngigen Natio-
nen. Dieſer Fall iſt um ſo lehrreicher, da hier
ein eigentlicher, handgreiflicher Richter noch nicht
vorhanden iſt, vielmehr ein ſolcher erſt eingeſetzt
werden ſoll. Jede von den beiden Nationen
hat ein beſonderes Intereſſe und ein allgemeines,
dieſes letztere moͤge nun, wie im Mittelalter,
chriſtliche Religion, oder, wie ſpaͤterhin,
Recht oder Gleichgewicht heißen. Die Un-
terhandlung faͤngt an mit oder ohne Mediation
einer dritten Macht; die ehemaligen Vertraͤge
zwiſchen den beiden Nationen werden zum Grunde
gelegt. Was ſind dieſe Vertraͤge? Urtheilsſpruͤ-
che eines unſichtbaren Richters, durch welche
fruͤhere Streitigkeiten beigelegt worden. Sie ſind
redende Beweiſe, daß damals jede von den bei-
den Maͤchten in das Intereſſe der andern Par-
thei eingangangen iſt, daß die Abgeſandten bei-
der Partheien oftmals ihre Plaͤtze vertauſcht
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mals aus dem Standpunkte der andern Parthei
ſein eignes Intereſſe betrachtet und vertheidigt

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[173/0207] gemeines weltliches Mittel vorgebeugt werden kann. Laſſen Sie uns zu der hier gegebenen Theorie des Prozeſſes ein Beiſpiel nach einem großen Maßſtabe waͤhlen, einen voͤlkerrechtlichen Pro- zeß zwiſchen zwei großen, unabhaͤngigen Natio- nen. Dieſer Fall iſt um ſo lehrreicher, da hier ein eigentlicher, handgreiflicher Richter noch nicht vorhanden iſt, vielmehr ein ſolcher erſt eingeſetzt werden ſoll. Jede von den beiden Nationen hat ein beſonderes Intereſſe und ein allgemeines, dieſes letztere moͤge nun, wie im Mittelalter, chriſtliche Religion, oder, wie ſpaͤterhin, Recht oder Gleichgewicht heißen. Die Un- terhandlung faͤngt an mit oder ohne Mediation einer dritten Macht; die ehemaligen Vertraͤge zwiſchen den beiden Nationen werden zum Grunde gelegt. Was ſind dieſe Vertraͤge? Urtheilsſpruͤ- che eines unſichtbaren Richters, durch welche fruͤhere Streitigkeiten beigelegt worden. Sie ſind redende Beweiſe, daß damals jede von den bei- den Maͤchten in das Intereſſe der andern Par- thei eingangangen iſt, daß die Abgeſandten bei- der Partheien oftmals ihre Plaͤtze vertauſcht haben, daß jeder von den beiden Advocaten oft- mals aus dem Standpunkte der andern Parthei ſein eignes Intereſſe betrachtet und vertheidigt

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/207>, abgerufen am 26.05.2024.