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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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Streit ist, den die beiden Partheien vor Gericht
führen; je mehr jede Parthei zum Worte kommt
(das heißt aber nicht etwa: je mehr ihr zu reden
verstattet ist, sondern je weniger die Gesetze ihr
den Mund verschließen): um so gediegener, le-
bendiger und ideenhafter wird der Urtheilsspruch
ausfallen können. Je mehr der Bürgerstand
gegen den Adel, und umgekehrt, der Rentenirer
gegen seinen Schuldner, der Eigenthümer gegen
den Pachter, der Käufer gegen den Verkäufer,
und umgekehrt, streiten kann; je weniger todte
Gesetze und todte Formen einem oder dem andern
Theile verbieten, den natürlichen Gesichtspunkt
für seine Sache zu verändern, und diese lebendige
Sache nach einer todten Gesetzformel zuzuschnei-
den und zu verdrehen; kurz, je freier und natür-
licher jede der beiden dem Staate gleich-nothwen-
digen Partheien sich aussprechen und vor dem
Richter regen kann: um so mehr muß das Ge-
setz ausgebildet werden, welches zur Regulirung
und Anwendung der beiden streitenden Partheien
bestimmt ist. -- Je vollständiger der Streit, um
so vollständiger das Gesetz; nennen Sie es einst-
weilen: Gleichgewicht der beiden Partheien.

Je mehr also Staat und Gesetz, in den un-
endlichen Streitigkeiten entgegenstehender Rechte,
das schwächere Recht in Schutz nehmen; je mehr

Streit iſt, den die beiden Partheien vor Gericht
fuͤhren; je mehr jede Parthei zum Worte kommt
(das heißt aber nicht etwa: je mehr ihr zu reden
verſtattet iſt, ſondern je weniger die Geſetze ihr
den Mund verſchließen): um ſo gediegener, le-
bendiger und ideenhafter wird der Urtheilsſpruch
ausfallen koͤnnen. Je mehr der Buͤrgerſtand
gegen den Adel, und umgekehrt, der Rentenirer
gegen ſeinen Schuldner, der Eigenthuͤmer gegen
den Pachter, der Kaͤufer gegen den Verkaͤufer,
und umgekehrt, ſtreiten kann; je weniger todte
Geſetze und todte Formen einem oder dem andern
Theile verbieten, den natuͤrlichen Geſichtspunkt
fuͤr ſeine Sache zu veraͤndern, und dieſe lebendige
Sache nach einer todten Geſetzformel zuzuſchnei-
den und zu verdrehen; kurz, je freier und natuͤr-
licher jede der beiden dem Staate gleich-nothwen-
digen Partheien ſich ausſprechen und vor dem
Richter regen kann: um ſo mehr muß das Ge-
ſetz ausgebildet werden, welches zur Regulirung
und Anwendung der beiden ſtreitenden Partheien
beſtimmt iſt. — Je vollſtaͤndiger der Streit, um
ſo vollſtaͤndiger das Geſetz; nennen Sie es einſt-
weilen: Gleichgewicht der beiden Partheien.

Je mehr alſo Staat und Geſetz, in den un-
endlichen Streitigkeiten entgegenſtehender Rechte,
das ſchwaͤchere Recht in Schutz nehmen; je mehr

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[189/0223] Streit iſt, den die beiden Partheien vor Gericht fuͤhren; je mehr jede Parthei zum Worte kommt (das heißt aber nicht etwa: je mehr ihr zu reden verſtattet iſt, ſondern je weniger die Geſetze ihr den Mund verſchließen): um ſo gediegener, le- bendiger und ideenhafter wird der Urtheilsſpruch ausfallen koͤnnen. Je mehr der Buͤrgerſtand gegen den Adel, und umgekehrt, der Rentenirer gegen ſeinen Schuldner, der Eigenthuͤmer gegen den Pachter, der Kaͤufer gegen den Verkaͤufer, und umgekehrt, ſtreiten kann; je weniger todte Geſetze und todte Formen einem oder dem andern Theile verbieten, den natuͤrlichen Geſichtspunkt fuͤr ſeine Sache zu veraͤndern, und dieſe lebendige Sache nach einer todten Geſetzformel zuzuſchnei- den und zu verdrehen; kurz, je freier und natuͤr- licher jede der beiden dem Staate gleich-nothwen- digen Partheien ſich ausſprechen und vor dem Richter regen kann: um ſo mehr muß das Ge- ſetz ausgebildet werden, welches zur Regulirung und Anwendung der beiden ſtreitenden Partheien beſtimmt iſt. — Je vollſtaͤndiger der Streit, um ſo vollſtaͤndiger das Geſetz; nennen Sie es einſt- weilen: Gleichgewicht der beiden Partheien. Je mehr alſo Staat und Geſetz, in den un- endlichen Streitigkeiten entgegenſtehender Rechte, das ſchwaͤchere Recht in Schutz nehmen; je mehr

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/223>, abgerufen am 19.05.2024.