ker brauchen wir beides, Geist und Erfahrung, einer gewissen Theorie und einer gewissen Pra- xis. Wo sollen wir ein Vorbild, ein Muster von einer gediegenen Allianz beider finden? Denn, wenn die wahre Theorie und die wahre Praxis eben so feindselig gegen einander gestellt sind, wie der Theoretiker und der Praktiker, so giebt es weder Staatswissenschaft, noch Staatskunst, und es ist dann eine bloße Täu- schung, wenn man glaubt, daß die Völker regiert würden; dann macht sich das ganze bürgerliche Wesen, wie wir es um uns her sehen, von selbst.
Heutiges Tages macht sich auch die ganze Sache, fast überall, von selbst: es sind wenige Stellen der Welt, wo eigentlich regiert wird. Wie wenige Staatsmänner sind auf der einen Seite der Zeit und den unerbittlichen, immer ungestümeren Forderungen der Gegenwart und des physischen Lebens gewachsen, d. h. wahrhaft praktisch, und zugleich gefaßt auf die Zukunft, auf die Nachwelt, auf die edleren Bedürfnisse eines besseren Geschlechtes, d. h. wahrhaft theo- retisch! -- Die Einen, die praktischen, sind Sklaven der Gewohnheit, und kleben am Al- ten, d. h. an seiner Schale, weil der Geist des Alterthums gerade die Seele befreiet und
ker brauchen wir beides, Geiſt und Erfahrung, einer gewiſſen Theorie und einer gewiſſen Pra- xis. Wo ſollen wir ein Vorbild, ein Muſter von einer gediegenen Allianz beider finden? Denn, wenn die wahre Theorie und die wahre Praxis eben ſo feindſelig gegen einander geſtellt ſind, wie der Theoretiker und der Praktiker, ſo giebt es weder Staatswiſſenſchaft, noch Staatskunſt, und es iſt dann eine bloße Taͤu- ſchung, wenn man glaubt, daß die Voͤlker regiert wuͤrden; dann macht ſich das ganze buͤrgerliche Weſen, wie wir es um uns her ſehen, von ſelbſt.
Heutiges Tages macht ſich auch die ganze Sache, faſt uͤberall, von ſelbſt: es ſind wenige Stellen der Welt, wo eigentlich regiert wird. Wie wenige Staatsmaͤnner ſind auf der einen Seite der Zeit und den unerbittlichen, immer ungeſtuͤmeren Forderungen der Gegenwart und des phyſiſchen Lebens gewachſen, d. h. wahrhaft praktiſch, und zugleich gefaßt auf die Zukunft, auf die Nachwelt, auf die edleren Beduͤrfniſſe eines beſſeren Geſchlechtes, d. h. wahrhaft theo- retiſch! — Die Einen, die praktiſchen, ſind Sklaven der Gewohnheit, und kleben am Al- ten, d. h. an ſeiner Schale, weil der Geiſt des Alterthums gerade die Seele befreiet und
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ker brauchen wir beides, Geiſt und Erfahrung,
einer gewiſſen Theorie und einer gewiſſen Pra-
xis. Wo ſollen wir ein Vorbild, ein Muſter
von einer gediegenen Allianz beider finden?
Denn, wenn die wahre Theorie und die wahre
Praxis eben ſo feindſelig gegen einander geſtellt
ſind, wie der Theoretiker und der Praktiker,
ſo giebt es weder Staatswiſſenſchaft, noch
Staatskunſt, und es iſt dann eine bloße Taͤu-
ſchung, wenn man glaubt, daß die Voͤlker regiert
wuͤrden; dann macht ſich das ganze buͤrgerliche
Weſen, wie wir es um uns her ſehen, von
ſelbſt.
Heutiges Tages macht ſich auch die ganze
Sache, faſt uͤberall, von ſelbſt: es ſind wenige
Stellen der Welt, wo eigentlich regiert wird.
Wie wenige Staatsmaͤnner ſind auf der einen
Seite der Zeit und den unerbittlichen, immer
ungeſtuͤmeren Forderungen der Gegenwart und
des phyſiſchen Lebens gewachſen, d. h. wahrhaft
praktiſch, und zugleich gefaßt auf die Zukunft,
auf die Nachwelt, auf die edleren Beduͤrfniſſe
eines beſſeren Geſchlechtes, d. h. wahrhaft theo-
retiſch! — Die Einen, die praktiſchen, ſind
Sklaven der Gewohnheit, und kleben am Al-
ten, d. h. an ſeiner Schale, weil der Geiſt
des Alterthums gerade die Seele befreiet und
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/58>, abgerufen am 22.11.2024.
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