Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

Angeln gehoben hat. Ein Naturrecht, das von
dem positiven Rechte abweicht! Aber die Staa-
ten, die bestimmten, positiven Staaten, sind ja
Rechtsanstalten; Staaten errichten -- nach den
Begriffen dieser Zeit -- heißt ja, das Recht
errichten; also ein Recht vor dem Recht und
außer dem Rechte!

Was war natürlicher, als daß man die Mo-
ral -- von der wir oben redeten, und mit wel-
cher der wirkliche Staat eigentlich nichts zu
schaffen hatte, worüber ich so eben geklagt habe,
-- nun größten Theils hinaustrieb in das er-
wähnte Vacuum, und dasselbe mit Sittenregeln,
oder mit philosophischen Deductionen eines ver-
meintlichen reinen Rechtes (wie es eine reine
Mathematik giebt) bevölkerte! --

Aus diesem allerunnatürlichsten Bestreben, ein
Naturrecht zu construiren, entstand die unglück-
lichste Mischung und Verwechselung des Natür-
lichen und Künstlichen. Da man einmal davon
ausgegangen war, alles positive Recht als etwas
Reinkünstliches und Unnatürliches anzusehen, und
dennoch das Positive aus dem Natürlichen dedu-
cirt und gerechtfertigt werden sollte: so wußte
zuletzt niemand mehr, was eigentlich positives
und was künstliches Recht sey; das Zeitalter
wurde müde, den nun erst recht verwickelten

Angeln gehoben hat. Ein Naturrecht, das von
dem poſitiven Rechte abweicht! Aber die Staa-
ten, die beſtimmten, poſitiven Staaten, ſind ja
Rechtsanſtalten; Staaten errichten — nach den
Begriffen dieſer Zeit — heißt ja, das Recht
errichten; alſo ein Recht vor dem Recht und
außer dem Rechte!

Was war natuͤrlicher, als daß man die Mo-
ral — von der wir oben redeten, und mit wel-
cher der wirkliche Staat eigentlich nichts zu
ſchaffen hatte, woruͤber ich ſo eben geklagt habe,
— nun groͤßten Theils hinaustrieb in das er-
waͤhnte Vacuum, und daſſelbe mit Sittenregeln,
oder mit philoſophiſchen Deductionen eines ver-
meintlichen reinen Rechtes (wie es eine reine
Mathematik giebt) bevoͤlkerte! —

Aus dieſem allerunnatuͤrlichſten Beſtreben, ein
Naturrecht zu conſtruiren, entſtand die ungluͤck-
lichſte Miſchung und Verwechſelung des Natuͤr-
lichen und Kuͤnſtlichen. Da man einmal davon
ausgegangen war, alles poſitive Recht als etwas
Reinkuͤnſtliches und Unnatuͤrliches anzuſehen, und
dennoch das Poſitive aus dem Natuͤrlichen dedu-
cirt und gerechtfertigt werden ſollte: ſo wußte
zuletzt niemand mehr, was eigentlich poſitives
und was kuͤnſtliches Recht ſey; das Zeitalter
wurde muͤde, den nun erſt recht verwickelten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0090" n="56"/>
Angeln gehoben hat. Ein Naturrecht, das von<lb/>
dem po&#x017F;itiven Rechte abweicht! Aber die Staa-<lb/>
ten, die be&#x017F;timmten, po&#x017F;itiven Staaten, &#x017F;ind ja<lb/>
Rechtsan&#x017F;talten; Staaten errichten &#x2014; nach den<lb/>
Begriffen die&#x017F;er Zeit &#x2014; heißt ja, das Recht<lb/>
errichten; al&#x017F;o ein Recht <hi rendition="#g">vor</hi> dem Recht und<lb/><hi rendition="#g">außer</hi> dem Rechte!</p><lb/>
            <p>Was war natu&#x0364;rlicher, als daß man die Mo-<lb/>
ral &#x2014; von der wir oben redeten, und mit wel-<lb/>
cher der wirkliche Staat eigentlich nichts zu<lb/>
&#x017F;chaffen hatte, woru&#x0364;ber ich &#x017F;o eben geklagt habe,<lb/>
&#x2014; nun gro&#x0364;ßten Theils hinaustrieb in das er-<lb/>
wa&#x0364;hnte <hi rendition="#aq">Vacuum</hi>, und da&#x017F;&#x017F;elbe mit Sittenregeln,<lb/>
oder mit philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Deductionen eines ver-<lb/>
meintlichen reinen Rechtes (wie es eine reine<lb/>
Mathematik giebt) bevo&#x0364;lkerte! &#x2014;</p><lb/>
            <p>Aus die&#x017F;em allerunnatu&#x0364;rlich&#x017F;ten Be&#x017F;treben, ein<lb/>
Naturrecht zu con&#x017F;truiren, ent&#x017F;tand die unglu&#x0364;ck-<lb/>
lich&#x017F;te Mi&#x017F;chung und Verwech&#x017F;elung des Natu&#x0364;r-<lb/>
lichen und Ku&#x0364;n&#x017F;tlichen. Da man einmal davon<lb/>
ausgegangen war, alles po&#x017F;itive Recht als etwas<lb/>
Reinku&#x0364;n&#x017F;tliches und Unnatu&#x0364;rliches anzu&#x017F;ehen, und<lb/>
dennoch das Po&#x017F;itive aus dem Natu&#x0364;rlichen dedu-<lb/>
cirt und gerechtfertigt werden &#x017F;ollte: &#x017F;o wußte<lb/>
zuletzt niemand mehr, was eigentlich po&#x017F;itives<lb/>
und was ku&#x0364;n&#x017F;tliches Recht &#x017F;ey; das Zeitalter<lb/>
wurde mu&#x0364;de, den nun er&#x017F;t recht verwickelten<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0090] Angeln gehoben hat. Ein Naturrecht, das von dem poſitiven Rechte abweicht! Aber die Staa- ten, die beſtimmten, poſitiven Staaten, ſind ja Rechtsanſtalten; Staaten errichten — nach den Begriffen dieſer Zeit — heißt ja, das Recht errichten; alſo ein Recht vor dem Recht und außer dem Rechte! Was war natuͤrlicher, als daß man die Mo- ral — von der wir oben redeten, und mit wel- cher der wirkliche Staat eigentlich nichts zu ſchaffen hatte, woruͤber ich ſo eben geklagt habe, — nun groͤßten Theils hinaustrieb in das er- waͤhnte Vacuum, und daſſelbe mit Sittenregeln, oder mit philoſophiſchen Deductionen eines ver- meintlichen reinen Rechtes (wie es eine reine Mathematik giebt) bevoͤlkerte! — Aus dieſem allerunnatuͤrlichſten Beſtreben, ein Naturrecht zu conſtruiren, entſtand die ungluͤck- lichſte Miſchung und Verwechſelung des Natuͤr- lichen und Kuͤnſtlichen. Da man einmal davon ausgegangen war, alles poſitive Recht als etwas Reinkuͤnſtliches und Unnatuͤrliches anzuſehen, und dennoch das Poſitive aus dem Natuͤrlichen dedu- cirt und gerechtfertigt werden ſollte: ſo wußte zuletzt niemand mehr, was eigentlich poſitives und was kuͤnſtliches Recht ſey; das Zeitalter wurde muͤde, den nun erſt recht verwickelten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/90
Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/90>, abgerufen am 22.11.2024.