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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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Knoten aufzulösen, und die vermeintliche Wis-
senschaft des Naturrechtes hörte auf, das große
Publicum weiter zu beschäftigen.

Nettelbladt hatte nicht ganz Unrecht, als
er in der großen Verlegenheit sein Naturrecht
offenherzig: jus naturae positivum nannte,
was, nach den damaligen Ansichten der Men-
schen, ungefähr eben so viel sagen wollte, wie
ein viereckiger Cirkel. Jetzt aber hat dieses
Wort, so wenig der brave Mann daran denken
mochte, eine tiefe und richtige Bedeutung. Die
Idee des Rechtes nehmlich hat zwar Ele-
mente: ein körperliches oder positives, und ein
geistiges oder allgemeines, allgemein gültiges;
und dies zweite Element war es eben, was jene
Leute "natürliches Recht" nannten. Sie mein-
ten nun, man könne dieses geistige Element von
dem körperlichen oder positiven trennen; man
könne es davon abziehen (abstrahiren) und es,
wie in hermetisch versiegelten Flaschen, etwa zur
gelegentlichen Herzstärkung kränkelnder Staaten,
abgesondert aufbewahren. Man begnügte sich
wieder mit dem Begriffe: es bildete sich ein
reines, stillstehendes Recht, welches auf das volle
üppige unbewegliche Leben wirklicher Staaten
oder Rechts-Institute entweder gar nicht, oder
nur verderblich, wirken konnte.

Knoten aufzuloͤſen, und die vermeintliche Wiſ-
ſenſchaft des Naturrechtes hoͤrte auf, das große
Publicum weiter zu beſchaͤftigen.

Nettelbladt hatte nicht ganz Unrecht, als
er in der großen Verlegenheit ſein Naturrecht
offenherzig: jus naturae positivum nannte,
was, nach den damaligen Anſichten der Men-
ſchen, ungefaͤhr eben ſo viel ſagen wollte, wie
ein viereckiger Cirkel. Jetzt aber hat dieſes
Wort, ſo wenig der brave Mann daran denken
mochte, eine tiefe und richtige Bedeutung. Die
Idee des Rechtes nehmlich hat zwar Ele-
mente: ein koͤrperliches oder poſitives, und ein
geiſtiges oder allgemeines, allgemein guͤltiges;
und dies zweite Element war es eben, was jene
Leute „natuͤrliches Recht” nannten. Sie mein-
ten nun, man koͤnne dieſes geiſtige Element von
dem koͤrperlichen oder poſitiven trennen; man
koͤnne es davon abziehen (abſtrahiren) und es,
wie in hermetiſch verſiegelten Flaſchen, etwa zur
gelegentlichen Herzſtaͤrkung kraͤnkelnder Staaten,
abgeſondert aufbewahren. Man begnuͤgte ſich
wieder mit dem Begriffe: es bildete ſich ein
reines, ſtillſtehendes Recht, welches auf das volle
uͤppige unbewegliche Leben wirklicher Staaten
oder Rechts-Inſtitute entweder gar nicht, oder
nur verderblich, wirken konnte.

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[57/0091] Knoten aufzuloͤſen, und die vermeintliche Wiſ- ſenſchaft des Naturrechtes hoͤrte auf, das große Publicum weiter zu beſchaͤftigen. Nettelbladt hatte nicht ganz Unrecht, als er in der großen Verlegenheit ſein Naturrecht offenherzig: jus naturae positivum nannte, was, nach den damaligen Anſichten der Men- ſchen, ungefaͤhr eben ſo viel ſagen wollte, wie ein viereckiger Cirkel. Jetzt aber hat dieſes Wort, ſo wenig der brave Mann daran denken mochte, eine tiefe und richtige Bedeutung. Die Idee des Rechtes nehmlich hat zwar Ele- mente: ein koͤrperliches oder poſitives, und ein geiſtiges oder allgemeines, allgemein guͤltiges; und dies zweite Element war es eben, was jene Leute „natuͤrliches Recht” nannten. Sie mein- ten nun, man koͤnne dieſes geiſtige Element von dem koͤrperlichen oder poſitiven trennen; man koͤnne es davon abziehen (abſtrahiren) und es, wie in hermetiſch verſiegelten Flaſchen, etwa zur gelegentlichen Herzſtaͤrkung kraͤnkelnder Staaten, abgeſondert aufbewahren. Man begnuͤgte ſich wieder mit dem Begriffe: es bildete ſich ein reines, ſtillſtehendes Recht, welches auf das volle uͤppige unbewegliche Leben wirklicher Staaten oder Rechts-Inſtitute entweder gar nicht, oder nur verderblich, wirken konnte.

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/91>, abgerufen am 22.11.2024.