Wer sich das Recht denkt, denkt sich unmittelbar eine bestimmte Localität, einen bestimmten Fall, wofür es Recht ist; das ist der natürliche, schöne Drang des lebendigen Menschen nach lebendiger Erkenntniß. Wer ein Gesetz, wie es da in Buch- staben hingeschrieben steht, erkennt, der hat den Begriff des Gesetzes, d. h. nichts als ein tod- tes Wort; wer es in der Anwendung, oder, was dasselbe sagen will, in der Bewegung sieht, der hat ein Drittes, weder bloß die For- mel, noch bloß etwas Positives oder einen be- stimmten Fall. Und jenes Dritte, das ist nun die Idee des Gesetzes, des Rechtes, die nie ab- geschlossen oder fertig, sondern in unendlicher, lebendiger Erweiterung begriffen ist. --
Der Staat aber ist eine große, bestimmte Localität, und seine Gesetzgebung ist die Masse der dazu gehörigen Formeln. Wer Beides, die Localität und die Formeln, in einander, und so in Bewegung betrachtet, der hat die Idee des Staates; und da die Idee, so wie ich sie hier construirt habe, selbst innerlich praktisch ist, so kann er auch zur Stelle auf den Thron des- selben Staates gesetzt werden, und wird ihn regieren, weil er wachsen wird, wie der Staat wächst. Die Idee kann das Leben allenthalben hin begleiten und auf dasselbe wirken, weil sie
Wer ſich das Recht denkt, denkt ſich unmittelbar eine beſtimmte Localitaͤt, einen beſtimmten Fall, wofuͤr es Recht iſt; das iſt der natuͤrliche, ſchoͤne Drang des lebendigen Menſchen nach lebendiger Erkenntniß. Wer ein Geſetz, wie es da in Buch- ſtaben hingeſchrieben ſteht, erkennt, der hat den Begriff des Geſetzes, d. h. nichts als ein tod- tes Wort; wer es in der Anwendung, oder, was daſſelbe ſagen will, in der Bewegung ſieht, der hat ein Drittes, weder bloß die For- mel, noch bloß etwas Poſitives oder einen be- ſtimmten Fall. Und jenes Dritte, das iſt nun die Idee des Geſetzes, des Rechtes, die nie ab- geſchloſſen oder fertig, ſondern in unendlicher, lebendiger Erweiterung begriffen iſt. —
Der Staat aber iſt eine große, beſtimmte Localitaͤt, und ſeine Geſetzgebung iſt die Maſſe der dazu gehoͤrigen Formeln. Wer Beides, die Localitaͤt und die Formeln, in einander, und ſo in Bewegung betrachtet, der hat die Idee des Staates; und da die Idee, ſo wie ich ſie hier conſtruirt habe, ſelbſt innerlich praktiſch iſt, ſo kann er auch zur Stelle auf den Thron deſ- ſelben Staates geſetzt werden, und wird ihn regieren, weil er wachſen wird, wie der Staat waͤchſt. Die Idee kann das Leben allenthalben hin begleiten und auf daſſelbe wirken, weil ſie
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0092"n="58"/><p>Wer ſich das Recht denkt, denkt ſich unmittelbar<lb/>
eine beſtimmte Localitaͤt, einen beſtimmten Fall,<lb/>
wofuͤr es Recht iſt; das iſt der natuͤrliche, ſchoͤne<lb/>
Drang des lebendigen Menſchen nach lebendiger<lb/>
Erkenntniß. Wer ein Geſetz, wie es da in Buch-<lb/>ſtaben hingeſchrieben ſteht, erkennt, der hat den<lb/><hirendition="#g">Begriff</hi> des Geſetzes, d. h. nichts als ein tod-<lb/>
tes Wort; wer es in der Anwendung, oder,<lb/>
was daſſelbe ſagen will, in der <hirendition="#g">Bewegung</hi><lb/>ſieht, der hat ein Drittes, weder bloß die For-<lb/>
mel, noch bloß etwas Poſitives oder einen be-<lb/>ſtimmten Fall. Und jenes Dritte, das iſt nun<lb/>
die Idee des Geſetzes, des Rechtes, die nie ab-<lb/>
geſchloſſen oder fertig, ſondern in unendlicher,<lb/>
lebendiger Erweiterung begriffen iſt. —</p><lb/><p>Der Staat aber iſt eine große, beſtimmte<lb/>
Localitaͤt, und ſeine Geſetzgebung iſt die Maſſe<lb/>
der dazu gehoͤrigen Formeln. Wer Beides, die<lb/>
Localitaͤt und die Formeln, in einander, und ſo<lb/>
in Bewegung betrachtet, der hat die Idee des<lb/>
Staates; und da die Idee, ſo wie ich ſie hier<lb/>
conſtruirt habe, ſelbſt innerlich praktiſch iſt, ſo<lb/>
kann er auch zur Stelle auf den Thron deſ-<lb/>ſelben Staates geſetzt werden, und wird ihn<lb/>
regieren, weil er wachſen wird, wie der Staat<lb/>
waͤchſt. Die <hirendition="#g">Idee</hi> kann das Leben allenthalben<lb/>
hin begleiten und auf daſſelbe wirken, weil ſie<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[58/0092]
Wer ſich das Recht denkt, denkt ſich unmittelbar
eine beſtimmte Localitaͤt, einen beſtimmten Fall,
wofuͤr es Recht iſt; das iſt der natuͤrliche, ſchoͤne
Drang des lebendigen Menſchen nach lebendiger
Erkenntniß. Wer ein Geſetz, wie es da in Buch-
ſtaben hingeſchrieben ſteht, erkennt, der hat den
Begriff des Geſetzes, d. h. nichts als ein tod-
tes Wort; wer es in der Anwendung, oder,
was daſſelbe ſagen will, in der Bewegung
ſieht, der hat ein Drittes, weder bloß die For-
mel, noch bloß etwas Poſitives oder einen be-
ſtimmten Fall. Und jenes Dritte, das iſt nun
die Idee des Geſetzes, des Rechtes, die nie ab-
geſchloſſen oder fertig, ſondern in unendlicher,
lebendiger Erweiterung begriffen iſt. —
Der Staat aber iſt eine große, beſtimmte
Localitaͤt, und ſeine Geſetzgebung iſt die Maſſe
der dazu gehoͤrigen Formeln. Wer Beides, die
Localitaͤt und die Formeln, in einander, und ſo
in Bewegung betrachtet, der hat die Idee des
Staates; und da die Idee, ſo wie ich ſie hier
conſtruirt habe, ſelbſt innerlich praktiſch iſt, ſo
kann er auch zur Stelle auf den Thron deſ-
ſelben Staates geſetzt werden, und wird ihn
regieren, weil er wachſen wird, wie der Staat
waͤchſt. Die Idee kann das Leben allenthalben
hin begleiten und auf daſſelbe wirken, weil ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/92>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.