Das hat die Wissenschaft der würdigen Alten so groß gemacht, und die der heutigen Deutschen so klein, so verwirrt, so todt, daß jene unter allen geistigen Bestrebungen nie von dem Vater- lande lassen konnten, diese aber mit schnödem Hochmuth den Staat seinem Schicksale anheim stellen, und sich herabzulassen glauben, wenn sie einmal fragen: ob das Vaterland wirklich noch stehe, oder schon versunken sey. Keine einzelne Wissenschaft kann bestehen, wenn sie nicht in das gesellschaftliche Leben eingreift.
Betrachten Sie -- damit ich mein Beispiel von einer Wissenschaft hernehme, die am ent- ferntesten von der Politik zu liegen scheint -- den Gang der Naturwissenschaft. Wie glänzend auch die Erscheinungen waren, die im ersten Momente des Aufflammens eines neuen wissen- schaftlichen Lebens in Frankreich und Deutsch- land, dort durch Lavoisier, hier durch Schel- ling, herbeigeführt wurden: dort und hier hat sich alle Kraft der Meister aufgelös't in die Ohn- macht nachbetender und nachschwärmender Schu- len. Hätte die Naturwissenschaft, die sich auf einen so hohen Standpunkt stellte, jemals gefühlt, daß es auch eine Naturgeschichte des Staates giebt; hätte sie, erhaben über das Schreien der Theorie, daß der Staat eine künstliche Erfindung
Müllers Elemente. I. [5]
Das hat die Wiſſenſchaft der wuͤrdigen Alten ſo groß gemacht, und die der heutigen Deutſchen ſo klein, ſo verwirrt, ſo todt, daß jene unter allen geiſtigen Beſtrebungen nie von dem Vater- lande laſſen konnten, dieſe aber mit ſchnoͤdem Hochmuth den Staat ſeinem Schickſale anheim ſtellen, und ſich herabzulaſſen glauben, wenn ſie einmal fragen: ob das Vaterland wirklich noch ſtehe, oder ſchon verſunken ſey. Keine einzelne Wiſſenſchaft kann beſtehen, wenn ſie nicht in das geſellſchaftliche Leben eingreift.
Betrachten Sie — damit ich mein Beiſpiel von einer Wiſſenſchaft hernehme, die am ent- fernteſten von der Politik zu liegen ſcheint — den Gang der Naturwiſſenſchaft. Wie glaͤnzend auch die Erſcheinungen waren, die im erſten Momente des Aufflammens eines neuen wiſſen- ſchaftlichen Lebens in Frankreich und Deutſch- land, dort durch Lavoiſier, hier durch Schel- ling, herbeigefuͤhrt wurden: dort und hier hat ſich alle Kraft der Meiſter aufgeloͤſ’t in die Ohn- macht nachbetender und nachſchwaͤrmender Schu- len. Haͤtte die Naturwiſſenſchaft, die ſich auf einen ſo hohen Standpunkt ſtellte, jemals gefuͤhlt, daß es auch eine Naturgeſchichte des Staates giebt; haͤtte ſie, erhaben uͤber das Schreien der Theorie, daß der Staat eine kuͤnſtliche Erfindung
Müllers Elemente. I. [5]
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Das hat die Wiſſenſchaft der wuͤrdigen Alten
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ſo klein, ſo verwirrt, ſo todt, daß jene unter
allen geiſtigen Beſtrebungen nie von dem Vater-
lande laſſen konnten, dieſe aber mit ſchnoͤdem
Hochmuth den Staat ſeinem Schickſale anheim
ſtellen, und ſich herabzulaſſen glauben, wenn ſie
einmal fragen: ob das Vaterland wirklich noch
ſtehe, oder ſchon verſunken ſey. Keine einzelne
Wiſſenſchaft kann beſtehen, wenn ſie nicht in
das geſellſchaftliche Leben eingreift.
Betrachten Sie — damit ich mein Beiſpiel
von einer Wiſſenſchaft hernehme, die am ent-
fernteſten von der Politik zu liegen ſcheint —
den Gang der Naturwiſſenſchaft. Wie glaͤnzend
auch die Erſcheinungen waren, die im erſten
Momente des Aufflammens eines neuen wiſſen-
ſchaftlichen Lebens in Frankreich und Deutſch-
land, dort durch Lavoiſier, hier durch Schel-
ling, herbeigefuͤhrt wurden: dort und hier hat
ſich alle Kraft der Meiſter aufgeloͤſ’t in die Ohn-
macht nachbetender und nachſchwaͤrmender Schu-
len. Haͤtte die Naturwiſſenſchaft, die ſich auf
einen ſo hohen Standpunkt ſtellte, jemals gefuͤhlt,
daß es auch eine Naturgeſchichte des Staates
giebt; haͤtte ſie, erhaben uͤber das Schreien der
Theorie, daß der Staat eine kuͤnſtliche Erfindung
Müllers Elemente. I. [5]
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/99>, abgerufen am 22.11.2024.
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