Aber die Grazie fehlte, die politische Grazie, möchte ich sagen: auch die Gesetze bedürfen die- ses milderen, süßeren Geistes, wenn sie nicht erstarren, oder mit folgenden Zeitaltern in eine unversöhnliche Opposition treten sollen; und er ist es, der die Griechen so unwiderstehlich mach- te, die allen bürgerlichen Einrichtungen und allem politischen Verkehr den zartesten Kunstgeist mit- theilten, die, wenn sie auch allzu glückliche, all- zu verwöhnte Kinder waren, um den Zusam- menhang der einzelnen Ideen zu ergreifen, d. h. die einzige suveräne Idee festzuhalten, dennoch alles Einzelne mit dem sichersten Gefühle belebten und idealisirten. Kurz, ihnen fehlte, was Israel besaß; aber dafür mangelte diesem, was die Grie- chen auszeichnet, der veredelnde, bewegliche Sinn, das kalon kagathon. --
Diese wichtige Parallele will mit allem Ernst und mit der größten Schärfe aufgefaßt seyn: etwas Aehnliches haben Sie in der neueren Welt, wenn Sie Sich die früher beschriebenen Euro- päischen Fünfreiche in ihren blühendsten Perio- den, mit aller der auch ihnen eigenthümlichen Grazie und reichen unbegränzten Bewegung den- ken, und dem bewegten Bilde gegenüber etwa das große, nach außen vermauerte, beziehungs- lose, ackerbauende China stellen wollen. -- Sollte
Aber die Grazie fehlte, die politiſche Grazie, moͤchte ich ſagen: auch die Geſetze beduͤrfen die- ſes milderen, ſuͤßeren Geiſtes, wenn ſie nicht erſtarren, oder mit folgenden Zeitaltern in eine unverſoͤhnliche Oppoſition treten ſollen; und er iſt es, der die Griechen ſo unwiderſtehlich mach- te, die allen buͤrgerlichen Einrichtungen und allem politiſchen Verkehr den zarteſten Kunſtgeiſt mit- theilten, die, wenn ſie auch allzu gluͤckliche, all- zu verwoͤhnte Kinder waren, um den Zuſam- menhang der einzelnen Ideen zu ergreifen, d. h. die einzige ſuveraͤne Idee feſtzuhalten, dennoch alles Einzelne mit dem ſicherſten Gefuͤhle belebten und idealiſirten. Kurz, ihnen fehlte, was Iſrael beſaß; aber dafuͤr mangelte dieſem, was die Grie- chen auszeichnet, der veredelnde, bewegliche Sinn, das καλον κᾀγαϑον. —
Dieſe wichtige Parallele will mit allem Ernſt und mit der groͤßten Schaͤrfe aufgefaßt ſeyn: etwas Aehnliches haben Sie in der neueren Welt, wenn Sie Sich die fruͤher beſchriebenen Euro- paͤiſchen Fuͤnfreiche in ihren bluͤhendſten Perio- den, mit aller der auch ihnen eigenthuͤmlichen Grazie und reichen unbegraͤnzten Bewegung den- ken, und dem bewegten Bilde gegenuͤber etwa das große, nach außen vermauerte, beziehungs- loſe, ackerbauende China ſtellen wollen. — Sollte
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Aber die Grazie fehlte, die politiſche Grazie,
moͤchte ich ſagen: auch die Geſetze beduͤrfen die-
ſes milderen, ſuͤßeren Geiſtes, wenn ſie nicht
erſtarren, oder mit folgenden Zeitaltern in eine
unverſoͤhnliche Oppoſition treten ſollen; und er
iſt es, der die Griechen ſo unwiderſtehlich mach-
te, die allen buͤrgerlichen Einrichtungen und allem
politiſchen Verkehr den zarteſten Kunſtgeiſt mit-
theilten, die, wenn ſie auch allzu gluͤckliche, all-
zu verwoͤhnte Kinder waren, um den Zuſam-
menhang der einzelnen Ideen zu ergreifen, d. h.
die einzige ſuveraͤne Idee feſtzuhalten, dennoch
alles Einzelne mit dem ſicherſten Gefuͤhle belebten
und idealiſirten. Kurz, ihnen fehlte, was Iſrael
beſaß; aber dafuͤr mangelte dieſem, was die Grie-
chen auszeichnet, der veredelnde, bewegliche Sinn,
das καλον κᾀγαϑον. —
Dieſe wichtige Parallele will mit allem Ernſt
und mit der groͤßten Schaͤrfe aufgefaßt ſeyn:
etwas Aehnliches haben Sie in der neueren Welt,
wenn Sie Sich die fruͤher beſchriebenen Euro-
paͤiſchen Fuͤnfreiche in ihren bluͤhendſten Perio-
den, mit aller der auch ihnen eigenthuͤmlichen
Grazie und reichen unbegraͤnzten Bewegung den-
ken, und dem bewegten Bilde gegenuͤber etwa
das große, nach außen vermauerte, beziehungs-
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/49>, abgerufen am 21.11.2024.
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