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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809.

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dem Herzen des Menschen hin, dem Mittel-
punkte aller Kraft, concentrirt werden! Solchen
großen Hinterhalt, solche Basis und lebendige
Garantie, wie eine herrschende Idee dem gan-
zen politischen Daseyn eines Volkes oder eines
Völkerbundes giebt, und der allen geringeren
Rechts-Instituten zu ihrem Zusammenhang un-
entbehrlich ist, entbehren wir; und deshalb läßt
sich viel bei Moses lernen.

Man verlange doch von jedem historischen
Quell nicht mehr, als er gewähren kann! man
wolle doch bei den Griechen nicht die unmittel-
baren Lehren der höchsten Gesetzgebung schöpfen;
man begnüge sich die politische Grazie dieser Na-
tion zu betrachten, wie ihre Geschichtschreiber,
wie Thucydides; ihre Redner, wie Demosthenes,
Lysias und Isokrates; und ihre Komöden, wie
Aristophanes, sie darstellen; man untersuche, wie
der veredelnde Geist ihres bürgerlichen Wesens
sich allen Instituten der Griechen mittheilt --:
aber man schlage die Werke ihrer eigentlichen
Gesetzgeber, des Solon und Lykurg, und ihrer
Staatsgelehrten, wie des Aristoteles, nicht zu
hoch an! Diese Gesetzgebungen und diese Staats-
Theorieen sind nichts weiter als kluge und kalte
Berechnungen über staatsrechtliche Formen, über
künstliche Vertheilung der Staatsgewalt, über die

dem Herzen des Menſchen hin, dem Mittel-
punkte aller Kraft, concentrirt werden! Solchen
großen Hinterhalt, ſolche Baſis und lebendige
Garantie, wie eine herrſchende Idee dem gan-
zen politiſchen Daſeyn eines Volkes oder eines
Voͤlkerbundes giebt, und der allen geringeren
Rechts-Inſtituten zu ihrem Zuſammenhang un-
entbehrlich iſt, entbehren wir; und deshalb laͤßt
ſich viel bei Moſes lernen.

Man verlange doch von jedem hiſtoriſchen
Quell nicht mehr, als er gewaͤhren kann! man
wolle doch bei den Griechen nicht die unmittel-
baren Lehren der hoͤchſten Geſetzgebung ſchoͤpfen;
man begnuͤge ſich die politiſche Grazie dieſer Na-
tion zu betrachten, wie ihre Geſchichtſchreiber,
wie Thucydides; ihre Redner, wie Demoſthenes,
Lyſias und Iſokrates; und ihre Komoͤden, wie
Ariſtophanes, ſie darſtellen; man unterſuche, wie
der veredelnde Geiſt ihres buͤrgerlichen Weſens
ſich allen Inſtituten der Griechen mittheilt —:
aber man ſchlage die Werke ihrer eigentlichen
Geſetzgeber, des Solon und Lykurg, und ihrer
Staatsgelehrten, wie des Ariſtoteles, nicht zu
hoch an! Dieſe Geſetzgebungen und dieſe Staats-
Theorieen ſind nichts weiter als kluge und kalte
Berechnungen uͤber ſtaatsrechtliche Formen, uͤber
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[43/0051] dem Herzen des Menſchen hin, dem Mittel- punkte aller Kraft, concentrirt werden! Solchen großen Hinterhalt, ſolche Baſis und lebendige Garantie, wie eine herrſchende Idee dem gan- zen politiſchen Daſeyn eines Volkes oder eines Voͤlkerbundes giebt, und der allen geringeren Rechts-Inſtituten zu ihrem Zuſammenhang un- entbehrlich iſt, entbehren wir; und deshalb laͤßt ſich viel bei Moſes lernen. Man verlange doch von jedem hiſtoriſchen Quell nicht mehr, als er gewaͤhren kann! man wolle doch bei den Griechen nicht die unmittel- baren Lehren der hoͤchſten Geſetzgebung ſchoͤpfen; man begnuͤge ſich die politiſche Grazie dieſer Na- tion zu betrachten, wie ihre Geſchichtſchreiber, wie Thucydides; ihre Redner, wie Demoſthenes, Lyſias und Iſokrates; und ihre Komoͤden, wie Ariſtophanes, ſie darſtellen; man unterſuche, wie der veredelnde Geiſt ihres buͤrgerlichen Weſens ſich allen Inſtituten der Griechen mittheilt —: aber man ſchlage die Werke ihrer eigentlichen Geſetzgeber, des Solon und Lykurg, und ihrer Staatsgelehrten, wie des Ariſtoteles, nicht zu hoch an! Dieſe Geſetzgebungen und dieſe Staats- Theorieen ſind nichts weiter als kluge und kalte Berechnungen uͤber ſtaatsrechtliche Formen, uͤber kuͤnſtliche Vertheilung der Staatsgewalt, uͤber die

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/51>, abgerufen am 23.11.2024.