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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Wer würde da nicht erregt sein? An wem würde nicht
zur Wahrheit werden des Dichters Wort von dem
"Hangen und Bangen in schwebender Pein", wenn ihm
gesagt wird: "Übermorgen sollst du zum erstenmal --
und zugleich zum letztenmal vor der Hochzeit --
deinen künftigen Reisegefährten durch das Leben sehen?"
Es giebt drei Arten der Begegnung. In dem ersten
Falle macht der junge Mann einen Besuch im Hause
seiner Zukünftigen. Bei dieser Gelegenheit serviert die
Braut den Thee, d. h. sie kommt durch eine Schiebe-
thüre des Nebenzimmers, stellt ein Täßchen Thee vor
ihren zukünftigen Gatten, verbeugt sich tief vor ihm
und entfernt sich wieder durch die Schiebethüre. Das
Ganze dauert höchstens eine halbe Minute. Gesprochen
wird nichts. Etwas weniger aufregend ist die Begegnung
auf der Brücke, die zweite Art des "Miai". Zu verab-
redeter Zeit kommt man auf einer Brücke aneinander
vorbei. Dabei hat man etwas mehr Gelegenheit, sich
anzusehen; aber gesprochen wird auch hier nichts. Da
ist die dritte Art des "Miai", die Begegnung in dem
Theater, doch noch die ausgiebigste. Das japanische
Theater dauert von früh morgens bis spät in die
Nacht hinein. Dabei wird gegessen und geplaudert,
und Braut und Bräutigam haben wenigstens etwas
Gelegenheit, sich kennen zu lernen. Freilich, wirklich
befriedigend ist auch das nicht. Die Etikette gebietet
strenge Zurückhaltung und die peinliche Vermeidung
jeder Äußerungen von Zärtlichkeit. Das Mädchen zu-
mal hat sich möglichst schweigend zu verhalten, und dem
Jüngling ist unsere europäische Sitte des Kurmachens
gänzlich unbekannt. Von einem Verlobungskuß kann
vollends keine Rede sein, denn der Japaner küßt über-
haupt nicht, und da in Japan die Mädchen sich sehr

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Wer würde da nicht erregt ſein? An wem würde nicht
zur Wahrheit werden des Dichters Wort von dem
„Hangen und Bangen in ſchwebender Pein“, wenn ihm
geſagt wird: „Übermorgen ſollſt du zum erſtenmal —
und zugleich zum letztenmal vor der Hochzeit —
deinen künftigen Reiſegefährten durch das Leben ſehen?“
Es giebt drei Arten der Begegnung. In dem erſten
Falle macht der junge Mann einen Beſuch im Hauſe
ſeiner Zukünftigen. Bei dieſer Gelegenheit ſerviert die
Braut den Thee, d. h. ſie kommt durch eine Schiebe-
thüre des Nebenzimmers, ſtellt ein Täßchen Thee vor
ihren zukünftigen Gatten, verbeugt ſich tief vor ihm
und entfernt ſich wieder durch die Schiebethüre. Das
Ganze dauert höchſtens eine halbe Minute. Geſprochen
wird nichts. Etwas weniger aufregend iſt die Begegnung
auf der Brücke, die zweite Art des „Miai“. Zu verab-
redeter Zeit kommt man auf einer Brücke aneinander
vorbei. Dabei hat man etwas mehr Gelegenheit, ſich
anzuſehen; aber geſprochen wird auch hier nichts. Da
iſt die dritte Art des „Miai“, die Begegnung in dem
Theater, doch noch die ausgiebigſte. Das japaniſche
Theater dauert von früh morgens bis ſpät in die
Nacht hinein. Dabei wird gegeſſen und geplaudert,
und Braut und Bräutigam haben wenigſtens etwas
Gelegenheit, ſich kennen zu lernen. Freilich, wirklich
befriedigend iſt auch das nicht. Die Etikette gebietet
ſtrenge Zurückhaltung und die peinliche Vermeidung
jeder Äußerungen von Zärtlichkeit. Das Mädchen zu-
mal hat ſich möglichſt ſchweigend zu verhalten, und dem
Jüngling iſt unſere europäiſche Sitte des Kurmachens
gänzlich unbekannt. Von einem Verlobungskuß kann
vollends keine Rede ſein, denn der Japaner küßt über-
haupt nicht, und da in Japan die Mädchen ſich ſehr

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[131/0145] Wer würde da nicht erregt ſein? An wem würde nicht zur Wahrheit werden des Dichters Wort von dem „Hangen und Bangen in ſchwebender Pein“, wenn ihm geſagt wird: „Übermorgen ſollſt du zum erſtenmal — und zugleich zum letztenmal vor der Hochzeit — deinen künftigen Reiſegefährten durch das Leben ſehen?“ Es giebt drei Arten der Begegnung. In dem erſten Falle macht der junge Mann einen Beſuch im Hauſe ſeiner Zukünftigen. Bei dieſer Gelegenheit ſerviert die Braut den Thee, d. h. ſie kommt durch eine Schiebe- thüre des Nebenzimmers, ſtellt ein Täßchen Thee vor ihren zukünftigen Gatten, verbeugt ſich tief vor ihm und entfernt ſich wieder durch die Schiebethüre. Das Ganze dauert höchſtens eine halbe Minute. Geſprochen wird nichts. Etwas weniger aufregend iſt die Begegnung auf der Brücke, die zweite Art des „Miai“. Zu verab- redeter Zeit kommt man auf einer Brücke aneinander vorbei. Dabei hat man etwas mehr Gelegenheit, ſich anzuſehen; aber geſprochen wird auch hier nichts. Da iſt die dritte Art des „Miai“, die Begegnung in dem Theater, doch noch die ausgiebigſte. Das japaniſche Theater dauert von früh morgens bis ſpät in die Nacht hinein. Dabei wird gegeſſen und geplaudert, und Braut und Bräutigam haben wenigſtens etwas Gelegenheit, ſich kennen zu lernen. Freilich, wirklich befriedigend iſt auch das nicht. Die Etikette gebietet ſtrenge Zurückhaltung und die peinliche Vermeidung jeder Äußerungen von Zärtlichkeit. Das Mädchen zu- mal hat ſich möglichſt ſchweigend zu verhalten, und dem Jüngling iſt unſere europäiſche Sitte des Kurmachens gänzlich unbekannt. Von einem Verlobungskuß kann vollends keine Rede ſein, denn der Japaner küßt über- haupt nicht, und da in Japan die Mädchen ſich ſehr 9*

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/145>, abgerufen am 23.11.2024.