Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

dicke Haut haben, wenn er nicht eine völlig schlaflose Nacht
verbringen soll. Nun lebte einmal ein Elternpaar,
welches einen noch sehr jungen Sohn mit einer besonders
zarten und feinen Haut hatte, ein rechter Leckerbissen
für die sehr wählerischen und feinschmeckenden Blutsauger.
Mit großer Bekümmernis sah der zarte Knabe, wie
seine lieben Eltern von den Tieren gequält und ge-
peinigt wurden, und in seinem liebenden Herzen reifte
der Entschluß, ihnen zu helfen. Hinfort bestand er
darauf, des Nachts mit völlig entblößtem Körper zu
liegen, damit die Schnaken nur an ihn gehen und
seine Eltern verschonen sollten.

Der drolligste in der Gesellschaft der vierundzwanzig
Tugendhelden ist unzweifelhaft Roraischi. Roraischi
war ein gutes Kind von siebenzig Jahren. Seine hoch-
betagten Eltern aber waren noch am Leben, und mehr
als neunzig Lebensjahre hatten sie gesehen. Roraischi
hatte nur eine Sorge: Seine Eltern möchten, ihres
hohen Alters bewußt, traurig werden und sich wegen
des nahenden Todes grämen. Um ihnen diesen Kummer
zu benehmen und sie über ihr Alter hinwegzutäuschen,
zog Roraischi Kinderkleider an, und gleich einem Baby
spielte er auf dem Fußboden. Da das seine Eltern
sahen, verflogen die Grillen und Sorgen des Alters;
sie lächelten sich glückselig an und freuten sich in dem
Gedanken, daß sie als glückliche Besitzer eines so kind-
lichen Sohnes immerhin noch nicht so alt sein könnten.

"Nun, da hat man ja in Japan köstlichen Stoff zum
Lachen", denkt wohl der europäische Leser. Durchaus nicht.
Die kleinen Japaner hören diese Geschichten, die natürlich
noch schön eingekleidet und aufgeputzt sind, mit dem
größten Ernst, und das Volk liest sie mit der größten
Andacht, sowie man bei uns die Geschichten der Heiligen

dicke Haut haben, wenn er nicht eine völlig ſchlafloſe Nacht
verbringen ſoll. Nun lebte einmal ein Elternpaar,
welches einen noch ſehr jungen Sohn mit einer beſonders
zarten und feinen Haut hatte, ein rechter Leckerbiſſen
für die ſehr wähleriſchen und feinſchmeckenden Blutſauger.
Mit großer Bekümmernis ſah der zarte Knabe, wie
ſeine lieben Eltern von den Tieren gequält und ge-
peinigt wurden, und in ſeinem liebenden Herzen reifte
der Entſchluß, ihnen zu helfen. Hinfort beſtand er
darauf, des Nachts mit völlig entblößtem Körper zu
liegen, damit die Schnaken nur an ihn gehen und
ſeine Eltern verſchonen ſollten.

Der drolligſte in der Geſellſchaft der vierundzwanzig
Tugendhelden iſt unzweifelhaft Rōraiſchi. Rōraiſchi
war ein gutes Kind von ſiebenzig Jahren. Seine hoch-
betagten Eltern aber waren noch am Leben, und mehr
als neunzig Lebensjahre hatten ſie geſehen. Rōraiſchi
hatte nur eine Sorge: Seine Eltern möchten, ihres
hohen Alters bewußt, traurig werden und ſich wegen
des nahenden Todes grämen. Um ihnen dieſen Kummer
zu benehmen und ſie über ihr Alter hinwegzutäuſchen,
zog Rōraiſchi Kinderkleider an, und gleich einem Baby
ſpielte er auf dem Fußboden. Da das ſeine Eltern
ſahen, verflogen die Grillen und Sorgen des Alters;
ſie lächelten ſich glückſelig an und freuten ſich in dem
Gedanken, daß ſie als glückliche Beſitzer eines ſo kind-
lichen Sohnes immerhin noch nicht ſo alt ſein könnten.

„Nun, da hat man ja in Japan köſtlichen Stoff zum
Lachen“, denkt wohl der europäiſche Leſer. Durchaus nicht.
Die kleinen Japaner hören dieſe Geſchichten, die natürlich
noch ſchön eingekleidet und aufgeputzt ſind, mit dem
größten Ernſt, und das Volk lieſt ſie mit der größten
Andacht, ſowie man bei uns die Geſchichten der Heiligen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0164" n="150"/>
dicke Haut haben, wenn er nicht eine völlig &#x017F;chlaflo&#x017F;e Nacht<lb/>
verbringen &#x017F;oll. Nun lebte einmal ein Elternpaar,<lb/>
welches einen noch &#x017F;ehr jungen Sohn mit einer be&#x017F;onders<lb/>
zarten und feinen Haut hatte, ein rechter Leckerbi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
für die &#x017F;ehr wähleri&#x017F;chen und fein&#x017F;chmeckenden Blut&#x017F;auger.<lb/>
Mit großer Bekümmernis &#x017F;ah der zarte Knabe, wie<lb/>
&#x017F;eine lieben Eltern von den Tieren gequält und ge-<lb/>
peinigt wurden, und in &#x017F;einem liebenden Herzen reifte<lb/>
der Ent&#x017F;chluß, ihnen zu helfen. Hinfort be&#x017F;tand er<lb/>
darauf, des Nachts mit völlig entblößtem Körper zu<lb/>
liegen, damit die Schnaken nur an ihn gehen und<lb/>
&#x017F;eine Eltern ver&#x017F;chonen &#x017F;ollten.</p><lb/>
        <p>Der drollig&#x017F;te in der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft der vierundzwanzig<lb/>
Tugendhelden i&#x017F;t unzweifelhaft R<hi rendition="#aq">&#x014D;</hi>rai&#x017F;chi. R<hi rendition="#aq">&#x014D;</hi>rai&#x017F;chi<lb/>
war ein gutes Kind von &#x017F;iebenzig Jahren. Seine hoch-<lb/>
betagten Eltern aber waren noch am Leben, und mehr<lb/>
als neunzig Lebensjahre hatten &#x017F;ie ge&#x017F;ehen. R<hi rendition="#aq">&#x014D;</hi>rai&#x017F;chi<lb/>
hatte nur eine Sorge: Seine Eltern möchten, ihres<lb/>
hohen Alters bewußt, traurig werden und &#x017F;ich wegen<lb/>
des nahenden Todes grämen. Um ihnen die&#x017F;en Kummer<lb/>
zu benehmen und &#x017F;ie über ihr Alter hinwegzutäu&#x017F;chen,<lb/>
zog R<hi rendition="#aq">&#x014D;</hi>rai&#x017F;chi Kinderkleider an, und gleich einem Baby<lb/>
&#x017F;pielte er auf dem Fußboden. Da das &#x017F;eine Eltern<lb/>
&#x017F;ahen, verflogen die Grillen und Sorgen des Alters;<lb/>
&#x017F;ie lächelten &#x017F;ich glück&#x017F;elig an und freuten &#x017F;ich in dem<lb/>
Gedanken, daß &#x017F;ie als glückliche Be&#x017F;itzer eines &#x017F;o kind-<lb/>
lichen Sohnes immerhin noch nicht &#x017F;o alt &#x017F;ein könnten.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nun, da hat man ja in Japan kö&#x017F;tlichen Stoff zum<lb/>
Lachen&#x201C;, denkt wohl der europäi&#x017F;che Le&#x017F;er. Durchaus nicht.<lb/>
Die kleinen Japaner hören die&#x017F;e Ge&#x017F;chichten, die natürlich<lb/>
noch &#x017F;chön eingekleidet und aufgeputzt &#x017F;ind, mit dem<lb/>
größten Ern&#x017F;t, und das Volk lie&#x017F;t &#x017F;ie mit der größten<lb/>
Andacht, &#x017F;owie man bei uns die Ge&#x017F;chichten der Heiligen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0164] dicke Haut haben, wenn er nicht eine völlig ſchlafloſe Nacht verbringen ſoll. Nun lebte einmal ein Elternpaar, welches einen noch ſehr jungen Sohn mit einer beſonders zarten und feinen Haut hatte, ein rechter Leckerbiſſen für die ſehr wähleriſchen und feinſchmeckenden Blutſauger. Mit großer Bekümmernis ſah der zarte Knabe, wie ſeine lieben Eltern von den Tieren gequält und ge- peinigt wurden, und in ſeinem liebenden Herzen reifte der Entſchluß, ihnen zu helfen. Hinfort beſtand er darauf, des Nachts mit völlig entblößtem Körper zu liegen, damit die Schnaken nur an ihn gehen und ſeine Eltern verſchonen ſollten. Der drolligſte in der Geſellſchaft der vierundzwanzig Tugendhelden iſt unzweifelhaft Rōraiſchi. Rōraiſchi war ein gutes Kind von ſiebenzig Jahren. Seine hoch- betagten Eltern aber waren noch am Leben, und mehr als neunzig Lebensjahre hatten ſie geſehen. Rōraiſchi hatte nur eine Sorge: Seine Eltern möchten, ihres hohen Alters bewußt, traurig werden und ſich wegen des nahenden Todes grämen. Um ihnen dieſen Kummer zu benehmen und ſie über ihr Alter hinwegzutäuſchen, zog Rōraiſchi Kinderkleider an, und gleich einem Baby ſpielte er auf dem Fußboden. Da das ſeine Eltern ſahen, verflogen die Grillen und Sorgen des Alters; ſie lächelten ſich glückſelig an und freuten ſich in dem Gedanken, daß ſie als glückliche Beſitzer eines ſo kind- lichen Sohnes immerhin noch nicht ſo alt ſein könnten. „Nun, da hat man ja in Japan köſtlichen Stoff zum Lachen“, denkt wohl der europäiſche Leſer. Durchaus nicht. Die kleinen Japaner hören dieſe Geſchichten, die natürlich noch ſchön eingekleidet und aufgeputzt ſind, mit dem größten Ernſt, und das Volk lieſt ſie mit der größten Andacht, ſowie man bei uns die Geſchichten der Heiligen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/164
Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/164>, abgerufen am 21.11.2024.