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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Schrift liest. In manchem Herzen reift dabei in heiliger
Begeisterung der feste Entschluß: "Solch ein gutes Kind
will ich auch werden".

Am bezeichnendsten von allen oben erzählten Ge-
schichten ist wohl die zweite. Dieselbe erinnert sehr stark
an die Opferung des Isaak. Da ist thatsächlich nur ein
ethischer Unterschied: Während Isaak um Gottes willen
geopfert werden sollte, soll hier dasselbe um des Vaters
willen geschehen. Was Juden und Christen Gott ist,
sind dem Japaner die Eltern. Ihm gilt als unbedingtes
Gebot: "Du sollst keine andern Götter neben ihnen
haben". Der jüdisch-christliche Gedanke: "Es soll ein
Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe
hangen", stößt in Japan auf entschiedenen Widerspruch:
Die Eltern stehen über der Gattin. Das Evangelium
erzählt, wie "Jesus zu einem andern Manne sprach:
Folge mir nach. Der sprach aber: Herr, erlaube mir,
daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber
Jesus sprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten be-
graben; gehe du aber hin und verkündige das Reich
Gottes". Diese Geschichte hat für den Japaner einen
bitteren Stachel und nicht immer gelingt es, denselben
zu entfernen. Trotz aller Erklärungen kommt er immer
und immer wieder darauf zurück: "Ja, aber so steht
es da! Und wie es da steht, ist es eine Pietätlosigkeit
im Munde Jesu!" Selbst mit dem Tode hat die Pietät
ihr Ende nicht erreicht; ungebrochen dauert sie über das
Grab hinaus. Die Trauerzeit wird mit großer Pünkt-
lichkeit eingehalten, an vorgeschriebenen Tagen wird das
Grab des Verstorbenen besucht, und sorgfältig bringt
man den Geistern der Abgeschiedenen die gebührenden
Opfer dar. Das Sprichwort: "Über dem Grabe wächst
bald Gras", hat in Japan keine Stätte.

Für die Eltern muß jedes Opfer freudig gebracht

Schrift lieſt. In manchem Herzen reift dabei in heiliger
Begeiſterung der feſte Entſchluß: „Solch ein gutes Kind
will ich auch werden“.

Am bezeichnendſten von allen oben erzählten Ge-
ſchichten iſt wohl die zweite. Dieſelbe erinnert ſehr ſtark
an die Opferung des Iſaak. Da iſt thatſächlich nur ein
ethiſcher Unterſchied: Während Iſaak um Gottes willen
geopfert werden ſollte, ſoll hier dasſelbe um des Vaters
willen geſchehen. Was Juden und Chriſten Gott iſt,
ſind dem Japaner die Eltern. Ihm gilt als unbedingtes
Gebot: „Du ſollſt keine andern Götter neben ihnen
haben“. Der jüdiſch-chriſtliche Gedanke: „Es ſoll ein
Menſch Vater und Mutter verlaſſen und an ſeinem Weibe
hangen“, ſtößt in Japan auf entſchiedenen Widerſpruch:
Die Eltern ſtehen über der Gattin. Das Evangelium
erzählt, wie „Jeſus zu einem andern Manne ſprach:
Folge mir nach. Der ſprach aber: Herr, erlaube mir,
daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber
Jeſus ſprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten be-
graben; gehe du aber hin und verkündige das Reich
Gottes“. Dieſe Geſchichte hat für den Japaner einen
bitteren Stachel und nicht immer gelingt es, denſelben
zu entfernen. Trotz aller Erklärungen kommt er immer
und immer wieder darauf zurück: „Ja, aber ſo ſteht
es da! Und wie es da ſteht, iſt es eine Pietätloſigkeit
im Munde Jeſu!“ Selbſt mit dem Tode hat die Pietät
ihr Ende nicht erreicht; ungebrochen dauert ſie über das
Grab hinaus. Die Trauerzeit wird mit großer Pünkt-
lichkeit eingehalten, an vorgeſchriebenen Tagen wird das
Grab des Verſtorbenen beſucht, und ſorgfältig bringt
man den Geiſtern der Abgeſchiedenen die gebührenden
Opfer dar. Das Sprichwort: „Über dem Grabe wächſt
bald Gras“, hat in Japan keine Stätte.

Für die Eltern muß jedes Opfer freudig gebracht

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[151/0165] Schrift lieſt. In manchem Herzen reift dabei in heiliger Begeiſterung der feſte Entſchluß: „Solch ein gutes Kind will ich auch werden“. Am bezeichnendſten von allen oben erzählten Ge- ſchichten iſt wohl die zweite. Dieſelbe erinnert ſehr ſtark an die Opferung des Iſaak. Da iſt thatſächlich nur ein ethiſcher Unterſchied: Während Iſaak um Gottes willen geopfert werden ſollte, ſoll hier dasſelbe um des Vaters willen geſchehen. Was Juden und Chriſten Gott iſt, ſind dem Japaner die Eltern. Ihm gilt als unbedingtes Gebot: „Du ſollſt keine andern Götter neben ihnen haben“. Der jüdiſch-chriſtliche Gedanke: „Es ſoll ein Menſch Vater und Mutter verlaſſen und an ſeinem Weibe hangen“, ſtößt in Japan auf entſchiedenen Widerſpruch: Die Eltern ſtehen über der Gattin. Das Evangelium erzählt, wie „Jeſus zu einem andern Manne ſprach: Folge mir nach. Der ſprach aber: Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jeſus ſprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten be- graben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes“. Dieſe Geſchichte hat für den Japaner einen bitteren Stachel und nicht immer gelingt es, denſelben zu entfernen. Trotz aller Erklärungen kommt er immer und immer wieder darauf zurück: „Ja, aber ſo ſteht es da! Und wie es da ſteht, iſt es eine Pietätloſigkeit im Munde Jeſu!“ Selbſt mit dem Tode hat die Pietät ihr Ende nicht erreicht; ungebrochen dauert ſie über das Grab hinaus. Die Trauerzeit wird mit großer Pünkt- lichkeit eingehalten, an vorgeſchriebenen Tagen wird das Grab des Verſtorbenen beſucht, und ſorgfältig bringt man den Geiſtern der Abgeſchiedenen die gebührenden Opfer dar. Das Sprichwort: „Über dem Grabe wächſt bald Gras“, hat in Japan keine Stätte. Für die Eltern muß jedes Opfer freudig gebracht

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/165>, abgerufen am 26.05.2024.