Es ist von jeher unter den in Japan ansässigen Fremden eine viel erörterte Streitfrage gewesen, ob die Japaner religiös irgendwie bedeutend veranlagt seien. Die Frage wird verschieden beantwortet. Während ihnen die Missionare entschieden eine hohe religiöse Veran- lagung zuerkennen, viele sogar in höherem Maße, als wir sie besitzen, sind die nichtgeistlichen Europäer -- Kaufleute und Gelehrte -- geneigt, ihnen fast jeden religiösen Sinn abzusprechen. Den Missionaren macht man dabei den Vorwurf, sie müßten natürlich so sprechen, wenn anders sie sich nicht selbst den Ast absägen wollten, auf welchem sie sitzen. Die Missionare aber erheben die Gegenklage, die andern verstünden nichts von der Sache, da sie nur mit einem sehr kleinen und beschränkten Bruchteil des Volkes und zwar vorzugsweise mit Ange- hörigen der allerdings atheistischen Samuraiklasse in Berührung kämen, während ihnen die Masse des Volkes vollständig fremd sei.
Sicher ist, daß sich die Frage nicht dadurch ent- scheiden läßt, daß man auf die Zahl der Priester und Tempel im Lande verweist. In einer rein geistigen Sache wie die Religiosität ist die Statistik, zumal wenn sie sich thatsächlich auf Priester und Tempel beschränken müßte, von sehr zweifelhaftem Werte. Die religiöse Veranlagung des Japaners läßt sich nur im Zusammen-
VII. Religiöſes Leben: Shintoismus.
Es iſt von jeher unter den in Japan anſäſſigen Fremden eine viel erörterte Streitfrage geweſen, ob die Japaner religiös irgendwie bedeutend veranlagt ſeien. Die Frage wird verſchieden beantwortet. Während ihnen die Miſſionare entſchieden eine hohe religiöſe Veran- lagung zuerkennen, viele ſogar in höherem Maße, als wir ſie beſitzen, ſind die nichtgeiſtlichen Europäer — Kaufleute und Gelehrte — geneigt, ihnen faſt jeden religiöſen Sinn abzuſprechen. Den Miſſionaren macht man dabei den Vorwurf, ſie müßten natürlich ſo ſprechen, wenn anders ſie ſich nicht ſelbſt den Aſt abſägen wollten, auf welchem ſie ſitzen. Die Miſſionare aber erheben die Gegenklage, die andern verſtünden nichts von der Sache, da ſie nur mit einem ſehr kleinen und beſchränkten Bruchteil des Volkes und zwar vorzugsweiſe mit Ange- hörigen der allerdings atheiſtiſchen Samuraiklaſſe in Berührung kämen, während ihnen die Maſſe des Volkes vollſtändig fremd ſei.
Sicher iſt, daß ſich die Frage nicht dadurch ent- ſcheiden läßt, daß man auf die Zahl der Prieſter und Tempel im Lande verweiſt. In einer rein geiſtigen Sache wie die Religioſität iſt die Statiſtik, zumal wenn ſie ſich thatſächlich auf Prieſter und Tempel beſchränken müßte, von ſehr zweifelhaftem Werte. Die religiöſe Veranlagung des Japaners läßt ſich nur im Zuſammen-
<TEI><text><body><pbfacs="#f0200"n="[186]"/><divn="1"><head><hirendition="#aq">VII.</hi> Religiöſes Leben: Shintoismus.</head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>s iſt von jeher unter den in Japan anſäſſigen<lb/>
Fremden eine viel erörterte Streitfrage geweſen, ob die<lb/>
Japaner religiös irgendwie bedeutend veranlagt ſeien.<lb/>
Die Frage wird verſchieden beantwortet. Während ihnen<lb/>
die Miſſionare entſchieden eine hohe religiöſe Veran-<lb/>
lagung zuerkennen, viele ſogar in höherem Maße, als<lb/>
wir ſie beſitzen, ſind die nichtgeiſtlichen Europäer —<lb/>
Kaufleute und Gelehrte — geneigt, ihnen faſt jeden<lb/>
religiöſen Sinn abzuſprechen. Den Miſſionaren macht<lb/>
man dabei den Vorwurf, ſie müßten natürlich ſo ſprechen,<lb/>
wenn anders ſie ſich nicht ſelbſt den Aſt abſägen wollten,<lb/>
auf welchem ſie ſitzen. Die Miſſionare aber erheben<lb/>
die Gegenklage, die andern verſtünden nichts von der<lb/>
Sache, da ſie nur mit einem ſehr kleinen und beſchränkten<lb/>
Bruchteil des Volkes und zwar vorzugsweiſe mit Ange-<lb/>
hörigen der allerdings atheiſtiſchen Samuraiklaſſe in<lb/>
Berührung kämen, während ihnen die Maſſe des Volkes<lb/>
vollſtändig fremd ſei.</p><lb/><p>Sicher iſt, daß ſich die Frage nicht dadurch ent-<lb/>ſcheiden läßt, daß man auf die Zahl der Prieſter und<lb/>
Tempel im Lande verweiſt. In einer rein geiſtigen<lb/>
Sache wie die Religioſität iſt die Statiſtik, zumal wenn<lb/>ſie ſich thatſächlich auf Prieſter und Tempel beſchränken<lb/>
müßte, von ſehr zweifelhaftem Werte. Die religiöſe<lb/>
Veranlagung des Japaners läßt ſich nur im Zuſammen-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[186]/0200]
VII. Religiöſes Leben: Shintoismus.
Es iſt von jeher unter den in Japan anſäſſigen
Fremden eine viel erörterte Streitfrage geweſen, ob die
Japaner religiös irgendwie bedeutend veranlagt ſeien.
Die Frage wird verſchieden beantwortet. Während ihnen
die Miſſionare entſchieden eine hohe religiöſe Veran-
lagung zuerkennen, viele ſogar in höherem Maße, als
wir ſie beſitzen, ſind die nichtgeiſtlichen Europäer —
Kaufleute und Gelehrte — geneigt, ihnen faſt jeden
religiöſen Sinn abzuſprechen. Den Miſſionaren macht
man dabei den Vorwurf, ſie müßten natürlich ſo ſprechen,
wenn anders ſie ſich nicht ſelbſt den Aſt abſägen wollten,
auf welchem ſie ſitzen. Die Miſſionare aber erheben
die Gegenklage, die andern verſtünden nichts von der
Sache, da ſie nur mit einem ſehr kleinen und beſchränkten
Bruchteil des Volkes und zwar vorzugsweiſe mit Ange-
hörigen der allerdings atheiſtiſchen Samuraiklaſſe in
Berührung kämen, während ihnen die Maſſe des Volkes
vollſtändig fremd ſei.
Sicher iſt, daß ſich die Frage nicht dadurch ent-
ſcheiden läßt, daß man auf die Zahl der Prieſter und
Tempel im Lande verweiſt. In einer rein geiſtigen
Sache wie die Religioſität iſt die Statiſtik, zumal wenn
ſie ſich thatſächlich auf Prieſter und Tempel beſchränken
müßte, von ſehr zweifelhaftem Werte. Die religiöſe
Veranlagung des Japaners läßt ſich nur im Zuſammen-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. [186]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/200>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.