hang mit seinem gesamten Geistesleben bestimmen. Nach dem, was dort (III.) gesagt worden ist, kann für uns kein Zweifel bestehen. Der Japaner ist gewiß religiös, so gewiß, als die Religion in dem Geistesleben eines jeden Volkes einen Bestandteil und zwar einen Haupt- bestandteil bildet; aber für die Geisteshöhen und -tiefen der Religion ist er weit weniger empfänglich als der Arier. Der Japaner ist eine Marthanatur, geschäftig, geschickt, praktisch, wohl auch etwas äußerlich; aber er ist nicht sehr viel von einer Marianatur, nicht bemerkens- wert tief, innerlich, finnig und innig. Die äußere Welt der greifbaren Wirklichkeit steht ihm über der inneren Welt der Herzensideale, das praktisch-sittliche Leben über der Mystik. Das Ziel des Japaners ist nicht, den Menschen zu sich selbst in Harmonie zu setzen, sondern das Verhältnis des Menschen zu seinem Neben- menschen, des Gatten zur Gattin, des Kindes zum Vater, des Schülers zum Lehrer, des Unterthanen zum Herrscher, des Freundes zum Freunde genau zu be- stimmen. Der Japaner ist in hohem Grade eine ethische, in schwächerem eine religiöse Persönlichkeit.
Es giebt kaum ein zweites Volk, wo sich die Ethik so sehr von der Religion emanzipiert hätte, und zwar nicht erst infolge eines langen geschichtlichen Prozesses, sondern von altersher. Das System des Konfuzius, welches seit seiner Einführung in den ersten Jahr- hunderten unserer Zeitrechnung unter Zugrundelegung der Pietät und Loyalität die gesamten sittlichen Lebens- verhältnisse der Japaner gestaltet hat, steht der Religion gänzlich fern; nicht als ob Konfuzius die Religion be- kämpfte, aber sie ist ihm gleichgültig. Auf der andern Seite wurden die Religionen, welchen mit Bezug auf die Sittlichkeit wenig mehr zu thun übrig blieb, fast
hang mit ſeinem geſamten Geiſtesleben beſtimmen. Nach dem, was dort (III.) geſagt worden iſt, kann für uns kein Zweifel beſtehen. Der Japaner iſt gewiß religiös, ſo gewiß, als die Religion in dem Geiſtesleben eines jeden Volkes einen Beſtandteil und zwar einen Haupt- beſtandteil bildet; aber für die Geiſteshöhen und -tiefen der Religion iſt er weit weniger empfänglich als der Arier. Der Japaner iſt eine Marthanatur, geſchäftig, geſchickt, praktiſch, wohl auch etwas äußerlich; aber er iſt nicht ſehr viel von einer Marianatur, nicht bemerkens- wert tief, innerlich, finnig und innig. Die äußere Welt der greifbaren Wirklichkeit ſteht ihm über der inneren Welt der Herzensideale, das praktiſch-ſittliche Leben über der Myſtik. Das Ziel des Japaners iſt nicht, den Menſchen zu ſich ſelbſt in Harmonie zu ſetzen, ſondern das Verhältnis des Menſchen zu ſeinem Neben- menſchen, des Gatten zur Gattin, des Kindes zum Vater, des Schülers zum Lehrer, des Unterthanen zum Herrſcher, des Freundes zum Freunde genau zu be- ſtimmen. Der Japaner iſt in hohem Grade eine ethiſche, in ſchwächerem eine religiöſe Perſönlichkeit.
Es giebt kaum ein zweites Volk, wo ſich die Ethik ſo ſehr von der Religion emanzipiert hätte, und zwar nicht erſt infolge eines langen geſchichtlichen Prozeſſes, ſondern von altersher. Das Syſtem des Konfuzius, welches ſeit ſeiner Einführung in den erſten Jahr- hunderten unſerer Zeitrechnung unter Zugrundelegung der Pietät und Loyalität die geſamten ſittlichen Lebens- verhältniſſe der Japaner geſtaltet hat, ſteht der Religion gänzlich fern; nicht als ob Konfuzius die Religion be- kämpfte, aber ſie iſt ihm gleichgültig. Auf der andern Seite wurden die Religionen, welchen mit Bezug auf die Sittlichkeit wenig mehr zu thun übrig blieb, faſt
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0201"n="187"/>
hang mit ſeinem geſamten Geiſtesleben beſtimmen. Nach<lb/>
dem, was dort <hirendition="#aq">(III.)</hi> geſagt worden iſt, kann für uns<lb/>
kein Zweifel beſtehen. Der Japaner iſt gewiß religiös,<lb/>ſo gewiß, als die Religion in dem Geiſtesleben eines<lb/>
jeden Volkes einen Beſtandteil und zwar einen Haupt-<lb/>
beſtandteil bildet; aber für die Geiſteshöhen und -tiefen<lb/>
der Religion iſt er weit weniger empfänglich als der<lb/>
Arier. Der Japaner iſt eine Marthanatur, geſchäftig,<lb/>
geſchickt, praktiſch, wohl auch etwas äußerlich; aber er<lb/>
iſt nicht ſehr viel von einer Marianatur, nicht bemerkens-<lb/>
wert tief, innerlich, finnig und innig. Die äußere Welt<lb/>
der greifbaren Wirklichkeit ſteht ihm über der inneren<lb/>
Welt der Herzensideale, das praktiſch-ſittliche Leben<lb/>
über der Myſtik. Das Ziel des Japaners iſt nicht,<lb/>
den Menſchen zu ſich ſelbſt in Harmonie zu ſetzen,<lb/>ſondern das Verhältnis des Menſchen zu ſeinem Neben-<lb/>
menſchen, des Gatten zur Gattin, des Kindes zum<lb/>
Vater, des Schülers zum Lehrer, des Unterthanen zum<lb/>
Herrſcher, des Freundes zum Freunde genau zu be-<lb/>ſtimmen. Der Japaner iſt in hohem Grade eine<lb/>
ethiſche, in ſchwächerem eine religiöſe Perſönlichkeit.</p><lb/><p>Es giebt kaum ein zweites Volk, wo ſich die Ethik<lb/>ſo ſehr von der Religion emanzipiert hätte, und zwar<lb/>
nicht erſt infolge eines langen geſchichtlichen Prozeſſes,<lb/>ſondern von altersher. Das Syſtem des Konfuzius,<lb/>
welches ſeit ſeiner Einführung in den erſten Jahr-<lb/>
hunderten unſerer Zeitrechnung unter Zugrundelegung<lb/>
der Pietät und Loyalität die geſamten ſittlichen Lebens-<lb/>
verhältniſſe der Japaner geſtaltet hat, ſteht der Religion<lb/>
gänzlich fern; nicht als ob Konfuzius die Religion be-<lb/>
kämpfte, aber ſie iſt ihm gleichgültig. Auf der andern<lb/>
Seite wurden die Religionen, welchen mit Bezug auf<lb/>
die Sittlichkeit wenig mehr zu thun übrig blieb, faſt<lb/></p></div></body></text></TEI>
[187/0201]
hang mit ſeinem geſamten Geiſtesleben beſtimmen. Nach
dem, was dort (III.) geſagt worden iſt, kann für uns
kein Zweifel beſtehen. Der Japaner iſt gewiß religiös,
ſo gewiß, als die Religion in dem Geiſtesleben eines
jeden Volkes einen Beſtandteil und zwar einen Haupt-
beſtandteil bildet; aber für die Geiſteshöhen und -tiefen
der Religion iſt er weit weniger empfänglich als der
Arier. Der Japaner iſt eine Marthanatur, geſchäftig,
geſchickt, praktiſch, wohl auch etwas äußerlich; aber er
iſt nicht ſehr viel von einer Marianatur, nicht bemerkens-
wert tief, innerlich, finnig und innig. Die äußere Welt
der greifbaren Wirklichkeit ſteht ihm über der inneren
Welt der Herzensideale, das praktiſch-ſittliche Leben
über der Myſtik. Das Ziel des Japaners iſt nicht,
den Menſchen zu ſich ſelbſt in Harmonie zu ſetzen,
ſondern das Verhältnis des Menſchen zu ſeinem Neben-
menſchen, des Gatten zur Gattin, des Kindes zum
Vater, des Schülers zum Lehrer, des Unterthanen zum
Herrſcher, des Freundes zum Freunde genau zu be-
ſtimmen. Der Japaner iſt in hohem Grade eine
ethiſche, in ſchwächerem eine religiöſe Perſönlichkeit.
Es giebt kaum ein zweites Volk, wo ſich die Ethik
ſo ſehr von der Religion emanzipiert hätte, und zwar
nicht erſt infolge eines langen geſchichtlichen Prozeſſes,
ſondern von altersher. Das Syſtem des Konfuzius,
welches ſeit ſeiner Einführung in den erſten Jahr-
hunderten unſerer Zeitrechnung unter Zugrundelegung
der Pietät und Loyalität die geſamten ſittlichen Lebens-
verhältniſſe der Japaner geſtaltet hat, ſteht der Religion
gänzlich fern; nicht als ob Konfuzius die Religion be-
kämpfte, aber ſie iſt ihm gleichgültig. Auf der andern
Seite wurden die Religionen, welchen mit Bezug auf
die Sittlichkeit wenig mehr zu thun übrig blieb, faſt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/201>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.