Pilger vor der Gottheit erscheinen? Mitunter sind es Krankheiten, zuweilen auch Heirats- und andere Schmerzen, in weitaus den meisten Fällen aber sind es Erntesorgen. Die große Frühjahrswallfahrt bedeutet den Dank für die Ernte des Vorjahrs und zugleich die Bitte um neuen Erntesegen. Auch bei den paar Pilgern im Sommer waren es Witterungssorgen, die ihnen am Herzen lagen. Denn während wir hoch oben auf dem Berge die halbe Zeit im Nebel saßen und Feuchtigkeit im Überfluß hatten, brannte in der Ebene die Sonne heiß auf die Felder nieder und trocknete sie aus. Da machte sich denn der eine oder andere in der Angst seines Herzens auf zum "Amagoi" (Bittgang um Regen) bei dem Kami von Mitake. Und wenn er demselben seine Aufwartung gemacht hatte, so ging er wohl noch durch eine wundervolle Allee von Kryptomerien den alten Pilgerpfad hinab nach dem heiligen Wasserfall Nanataki, der in sieben Gefällen zwischen dem undurch- dringlichen Gestrüpp des Waldes sich brausend herab- stürzt, um nach dem letzten Sturz in einem kleinen Teich sich zu sammeln, ehe er als munterer Bergbach weiterfließt. Bei diesem Teich sind einige Miniatur- tempelchen angebracht und in den Felsen sind Inschriften zum Preise der Gottheit eingehauen. Hier läßt sich der Pilger auf seine Kniee nieder, zieht ein kleines Bambusgefäß heraus und füllt dasselbe mit dem Wasser des Teiches. Nachdem er es gut verkapselt, tritt er den Heimweg an; den heiligen Berg geht er hinab und durch die Ebene hin ohne Rast bis zur Gemarkung seines Heimatdorfes. Hätte er sich aber nur ein einziges Mal verweilt, so wäre alle Mühe umsonst gewesen. Leider ist sie aber auch so manchmal vergebens, und wenn es nun gar zu arg mit der Trockenheit wird, so
Pilger vor der Gottheit erſcheinen? Mitunter ſind es Krankheiten, zuweilen auch Heirats- und andere Schmerzen, in weitaus den meiſten Fällen aber ſind es Ernteſorgen. Die große Frühjahrswallfahrt bedeutet den Dank für die Ernte des Vorjahrs und zugleich die Bitte um neuen Ernteſegen. Auch bei den paar Pilgern im Sommer waren es Witterungsſorgen, die ihnen am Herzen lagen. Denn während wir hoch oben auf dem Berge die halbe Zeit im Nebel ſaßen und Feuchtigkeit im Überfluß hatten, brannte in der Ebene die Sonne heiß auf die Felder nieder und trocknete ſie aus. Da machte ſich denn der eine oder andere in der Angſt ſeines Herzens auf zum „Amagoi“ (Bittgang um Regen) bei dem Kami von Mitake. Und wenn er demſelben ſeine Aufwartung gemacht hatte, ſo ging er wohl noch durch eine wundervolle Allee von Kryptomerien den alten Pilgerpfad hinab nach dem heiligen Waſſerfall Nanataki, der in ſieben Gefällen zwiſchen dem undurch- dringlichen Geſtrüpp des Waldes ſich brauſend herab- ſtürzt, um nach dem letzten Sturz in einem kleinen Teich ſich zu ſammeln, ehe er als munterer Bergbach weiterfließt. Bei dieſem Teich ſind einige Miniatur- tempelchen angebracht und in den Felſen ſind Inſchriften zum Preiſe der Gottheit eingehauen. Hier läßt ſich der Pilger auf ſeine Kniee nieder, zieht ein kleines Bambusgefäß heraus und füllt dasſelbe mit dem Waſſer des Teiches. Nachdem er es gut verkapſelt, tritt er den Heimweg an; den heiligen Berg geht er hinab und durch die Ebene hin ohne Raſt bis zur Gemarkung ſeines Heimatdorfes. Hätte er ſich aber nur ein einziges Mal verweilt, ſo wäre alle Mühe umſonſt geweſen. Leider iſt ſie aber auch ſo manchmal vergebens, und wenn es nun gar zu arg mit der Trockenheit wird, ſo
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[206/0220]
Pilger vor der Gottheit erſcheinen? Mitunter ſind es
Krankheiten, zuweilen auch Heirats- und andere Schmerzen,
in weitaus den meiſten Fällen aber ſind es Ernteſorgen.
Die große Frühjahrswallfahrt bedeutet den Dank für
die Ernte des Vorjahrs und zugleich die Bitte um
neuen Ernteſegen. Auch bei den paar Pilgern im
Sommer waren es Witterungsſorgen, die ihnen am
Herzen lagen. Denn während wir hoch oben auf dem
Berge die halbe Zeit im Nebel ſaßen und Feuchtigkeit
im Überfluß hatten, brannte in der Ebene die Sonne
heiß auf die Felder nieder und trocknete ſie aus. Da
machte ſich denn der eine oder andere in der Angſt
ſeines Herzens auf zum „Amagoi“ (Bittgang um Regen)
bei dem Kami von Mitake. Und wenn er demſelben
ſeine Aufwartung gemacht hatte, ſo ging er wohl noch
durch eine wundervolle Allee von Kryptomerien den
alten Pilgerpfad hinab nach dem heiligen Waſſerfall
Nanataki, der in ſieben Gefällen zwiſchen dem undurch-
dringlichen Geſtrüpp des Waldes ſich brauſend herab-
ſtürzt, um nach dem letzten Sturz in einem kleinen
Teich ſich zu ſammeln, ehe er als munterer Bergbach
weiterfließt. Bei dieſem Teich ſind einige Miniatur-
tempelchen angebracht und in den Felſen ſind Inſchriften
zum Preiſe der Gottheit eingehauen. Hier läßt ſich
der Pilger auf ſeine Kniee nieder, zieht ein kleines
Bambusgefäß heraus und füllt dasſelbe mit dem Waſſer
des Teiches. Nachdem er es gut verkapſelt, tritt er
den Heimweg an; den heiligen Berg geht er hinab und
durch die Ebene hin ohne Raſt bis zur Gemarkung
ſeines Heimatdorfes. Hätte er ſich aber nur ein einziges
Mal verweilt, ſo wäre alle Mühe umſonſt geweſen.
Leider iſt ſie aber auch ſo manchmal vergebens, und
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/220>, abgerufen am 21.11.2024.
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