wollte, wäre übel beraten. Gereiften Konfirmanden mögen wir wohl Jesus mit auf den Lebensweg geben als Führer. Denn er ist ihnen aus persönlicher Erfah- rung von Kind auf vertraut wie ein leibhaftiger Mensch und ein treuer Freund. Für den Neubekehrten aber ist Jesus das nicht. Für ihn ist er kaum mehr als ein Abstraktum, eine Idee, wenn auch die höchste Idee, die er kennt. An der unpersönlichen Idee, nebelhaft und ungreifbar wie sie ist, ohne Fleisch und Bein, kann er sich nicht festhalten. Dazu bedarf es einer lebendigen Persönlichkeit, und das ist der Seelsorger. Das religiöse Leben des Neubekehrten wird nur erhalten durch die lebendige Persönlichkeit des Seelsorgers. In ihm sieht er die Gedanken Christi verkörpert; in persönlichem Ver- trauen zu dem Seelsorger, welcher den bekannten Mittler zwischen ihm und einem unbekannten Dritten bildet, bleibt er verbunden mit seinem Heiland. Geht ihm der Seelsorger verloren, so geht das Mittelglied zwischen ihm und dem Heiland verloren, so wird das Band mit Jesus für ihn durchschnitten, so wird er hilflos preis- gegeben jeder widrigen Strömung, die ihn von Jesus wegtreiben könnte. Das persönliche Verhältnis zum Seelsorger ist es, das ihn festhält. Kommt einmal ein Windstoß, stark genug, um den leichten Japaner mit fortzureißen, so ist es gut, daß der Seelsorger mit dem ganzen Gewicht seiner autoritativen Persönlichkeit sich an ihn hängt und ihn zurückhält. Von der Wichtigkeit eines persönlichen Verhältnisses zwischen Seelsorger und Christ auf dem Missionsgebiete macht sich hier zu Lande kaum jemand einen Begriff. In vielen unserer Kirchen steht der Seelsorger Sonntag für Sonntag auf seiner Kanzel, und Sonntag für Sonntag kommen die Zuhörer, die er persönlich nicht einmal kennt, aber sie kommen doch und halten aus. Für den Heidenchristen aber
wollte, wäre übel beraten. Gereiften Konfirmanden mögen wir wohl Jeſus mit auf den Lebensweg geben als Führer. Denn er iſt ihnen aus perſönlicher Erfah- rung von Kind auf vertraut wie ein leibhaftiger Menſch und ein treuer Freund. Für den Neubekehrten aber iſt Jeſus das nicht. Für ihn iſt er kaum mehr als ein Abſtraktum, eine Idee, wenn auch die höchſte Idee, die er kennt. An der unperſönlichen Idee, nebelhaft und ungreifbar wie ſie iſt, ohne Fleiſch und Bein, kann er ſich nicht feſthalten. Dazu bedarf es einer lebendigen Perſönlichkeit, und das iſt der Seelſorger. Das religiöſe Leben des Neubekehrten wird nur erhalten durch die lebendige Perſönlichkeit des Seelſorgers. In ihm ſieht er die Gedanken Chriſti verkörpert; in perſönlichem Ver- trauen zu dem Seelſorger, welcher den bekannten Mittler zwiſchen ihm und einem unbekannten Dritten bildet, bleibt er verbunden mit ſeinem Heiland. Geht ihm der Seelſorger verloren, ſo geht das Mittelglied zwiſchen ihm und dem Heiland verloren, ſo wird das Band mit Jeſus für ihn durchſchnitten, ſo wird er hilflos preis- gegeben jeder widrigen Strömung, die ihn von Jeſus wegtreiben könnte. Das perſönliche Verhältnis zum Seelſorger iſt es, das ihn feſthält. Kommt einmal ein Windſtoß, ſtark genug, um den leichten Japaner mit fortzureißen, ſo iſt es gut, daß der Seelſorger mit dem ganzen Gewicht ſeiner autoritativen Perſönlichkeit ſich an ihn hängt und ihn zurückhält. Von der Wichtigkeit eines perſönlichen Verhältniſſes zwiſchen Seelſorger und Chriſt auf dem Miſſionsgebiete macht ſich hier zu Lande kaum jemand einen Begriff. In vielen unſerer Kirchen ſteht der Seelſorger Sonntag für Sonntag auf ſeiner Kanzel, und Sonntag für Sonntag kommen die Zuhörer, die er perſönlich nicht einmal kennt, aber ſie kommen doch und halten aus. Für den Heidenchriſten aber
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0377"n="363"/>
wollte, wäre übel beraten. Gereiften Konfirmanden<lb/>
mögen wir wohl Jeſus mit auf den Lebensweg geben<lb/>
als Führer. Denn er iſt ihnen aus perſönlicher Erfah-<lb/>
rung von Kind auf vertraut wie ein leibhaftiger Menſch<lb/>
und ein treuer Freund. Für den Neubekehrten aber iſt<lb/>
Jeſus das nicht. Für ihn iſt er kaum mehr als ein<lb/>
Abſtraktum, eine Idee, wenn auch die höchſte Idee, die<lb/>
er kennt. An der unperſönlichen Idee, nebelhaft und<lb/>
ungreifbar wie ſie iſt, ohne Fleiſch und Bein, kann er<lb/>ſich nicht feſthalten. Dazu bedarf es einer lebendigen<lb/>
Perſönlichkeit, und das iſt der Seelſorger. Das religiöſe<lb/>
Leben des Neubekehrten wird nur erhalten durch die<lb/>
lebendige Perſönlichkeit des Seelſorgers. In ihm ſieht<lb/>
er die Gedanken Chriſti verkörpert; in perſönlichem Ver-<lb/>
trauen zu dem Seelſorger, welcher den bekannten Mittler<lb/>
zwiſchen ihm und einem unbekannten Dritten bildet,<lb/>
bleibt er verbunden mit ſeinem Heiland. Geht ihm der<lb/>
Seelſorger verloren, ſo geht das Mittelglied zwiſchen<lb/>
ihm und dem Heiland verloren, ſo wird das Band mit<lb/>
Jeſus für ihn durchſchnitten, ſo wird er hilflos preis-<lb/>
gegeben jeder widrigen Strömung, die ihn von Jeſus<lb/>
wegtreiben könnte. Das perſönliche Verhältnis zum<lb/>
Seelſorger iſt es, das ihn feſthält. Kommt einmal ein<lb/>
Windſtoß, ſtark genug, um den leichten Japaner mit<lb/>
fortzureißen, ſo iſt es gut, daß der Seelſorger mit dem<lb/>
ganzen Gewicht ſeiner autoritativen Perſönlichkeit ſich<lb/>
an ihn hängt und ihn zurückhält. Von der Wichtigkeit<lb/>
eines perſönlichen Verhältniſſes zwiſchen Seelſorger und<lb/>
Chriſt auf dem Miſſionsgebiete macht ſich hier zu Lande<lb/>
kaum jemand einen Begriff. In vielen unſerer Kirchen<lb/>ſteht der Seelſorger Sonntag für Sonntag auf ſeiner<lb/>
Kanzel, und Sonntag für Sonntag kommen die Zuhörer,<lb/>
die er perſönlich nicht einmal kennt, aber ſie kommen<lb/>
doch und halten aus. Für den Heidenchriſten aber<lb/></p></div></body></text></TEI>
[363/0377]
wollte, wäre übel beraten. Gereiften Konfirmanden
mögen wir wohl Jeſus mit auf den Lebensweg geben
als Führer. Denn er iſt ihnen aus perſönlicher Erfah-
rung von Kind auf vertraut wie ein leibhaftiger Menſch
und ein treuer Freund. Für den Neubekehrten aber iſt
Jeſus das nicht. Für ihn iſt er kaum mehr als ein
Abſtraktum, eine Idee, wenn auch die höchſte Idee, die
er kennt. An der unperſönlichen Idee, nebelhaft und
ungreifbar wie ſie iſt, ohne Fleiſch und Bein, kann er
ſich nicht feſthalten. Dazu bedarf es einer lebendigen
Perſönlichkeit, und das iſt der Seelſorger. Das religiöſe
Leben des Neubekehrten wird nur erhalten durch die
lebendige Perſönlichkeit des Seelſorgers. In ihm ſieht
er die Gedanken Chriſti verkörpert; in perſönlichem Ver-
trauen zu dem Seelſorger, welcher den bekannten Mittler
zwiſchen ihm und einem unbekannten Dritten bildet,
bleibt er verbunden mit ſeinem Heiland. Geht ihm der
Seelſorger verloren, ſo geht das Mittelglied zwiſchen
ihm und dem Heiland verloren, ſo wird das Band mit
Jeſus für ihn durchſchnitten, ſo wird er hilflos preis-
gegeben jeder widrigen Strömung, die ihn von Jeſus
wegtreiben könnte. Das perſönliche Verhältnis zum
Seelſorger iſt es, das ihn feſthält. Kommt einmal ein
Windſtoß, ſtark genug, um den leichten Japaner mit
fortzureißen, ſo iſt es gut, daß der Seelſorger mit dem
ganzen Gewicht ſeiner autoritativen Perſönlichkeit ſich
an ihn hängt und ihn zurückhält. Von der Wichtigkeit
eines perſönlichen Verhältniſſes zwiſchen Seelſorger und
Chriſt auf dem Miſſionsgebiete macht ſich hier zu Lande
kaum jemand einen Begriff. In vielen unſerer Kirchen
ſteht der Seelſorger Sonntag für Sonntag auf ſeiner
Kanzel, und Sonntag für Sonntag kommen die Zuhörer,
die er perſönlich nicht einmal kennt, aber ſie kommen
doch und halten aus. Für den Heidenchriſten aber
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/377>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.