Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

gewinnt Kirchgehen und Predigt erst dann Interesse
und Anziehungskraft, wenn er dem Prediger persönlich
nahe steht. Ein Prediger, den er nicht kennt, kann ihn
auf die Dauer nicht befriedigen, und wäre er selbst der
vorzüglichste Redner. Lebendige persönliche Beziehungen
des Seelsorgers zu seinen Gläubigen sind darum für
die heidenchristliche Gemeinde geradezu eine Lebensfrage.
Wo sie fehlen, geht alles zu Grunde.

Der Missionar erhält aber einen bedeutenden Bun-
desgenossen in der Gemeinde. Für den japanischen
Christen, welcher in seinem Leben nie in vollem Sinne
erfahren hat, was Freiheit und Selbständigkeit ist, der
vielmehr als Glied der Familie und des Volks in
Familie und Volk seinen natürlichen Rückhalt hatte,
bedeutet die Gemeinschaft etwas ganz anderes als für
uns. Der einzelne will von der Gemeinschaft getragen
sein. Die Gemeinde muß ihm das ersetzen, was ihm
zuvor die Familie gewesen ist. Die Missionsgemeinde
muß darum etwas ganz anderes sein, als die Durch-
schnittsgemeinde in unseren Landen. Sie muß in vollem
Sinne ein lebendiger Organismus, eine geistliche Fa-
milie sein. Gemeinden wie die unsrigen in der Hei-
mat, wo sich der Gläubige höchstens einmal Sonntags
bewußt wird, daß er das Glied einer Gemeinschaft ist,
wären auf dem Missionsgebiete von kurzer Dauer. Denn
die Woche über wären die Christen als einzelne zer-
splittert, und einzeln preisgegeben den Mächten des
Unglaubens würden sie von diesen leicht überwunden
werden. Erst in der Gemeinschaft werden sie stark.
Es handelt sich also nicht um Gemeinden, die nichts
weiter sind als zufällige Vereinigungen am Sonntag.

Das Gemeindeleben darf nicht aufgehen in den
Gottesdiensten am Sonntagmorgen; auch mit der Sonn-

gewinnt Kirchgehen und Predigt erſt dann Intereſſe
und Anziehungskraft, wenn er dem Prediger perſönlich
nahe ſteht. Ein Prediger, den er nicht kennt, kann ihn
auf die Dauer nicht befriedigen, und wäre er ſelbſt der
vorzüglichſte Redner. Lebendige perſönliche Beziehungen
des Seelſorgers zu ſeinen Gläubigen ſind darum für
die heidenchriſtliche Gemeinde geradezu eine Lebensfrage.
Wo ſie fehlen, geht alles zu Grunde.

Der Miſſionar erhält aber einen bedeutenden Bun-
desgenoſſen in der Gemeinde. Für den japaniſchen
Chriſten, welcher in ſeinem Leben nie in vollem Sinne
erfahren hat, was Freiheit und Selbſtändigkeit iſt, der
vielmehr als Glied der Familie und des Volks in
Familie und Volk ſeinen natürlichen Rückhalt hatte,
bedeutet die Gemeinſchaft etwas ganz anderes als für
uns. Der einzelne will von der Gemeinſchaft getragen
ſein. Die Gemeinde muß ihm das erſetzen, was ihm
zuvor die Familie geweſen iſt. Die Miſſionsgemeinde
muß darum etwas ganz anderes ſein, als die Durch-
ſchnittsgemeinde in unſeren Landen. Sie muß in vollem
Sinne ein lebendiger Organismus, eine geiſtliche Fa-
milie ſein. Gemeinden wie die unſrigen in der Hei-
mat, wo ſich der Gläubige höchſtens einmal Sonntags
bewußt wird, daß er das Glied einer Gemeinſchaft iſt,
wären auf dem Miſſionsgebiete von kurzer Dauer. Denn
die Woche über wären die Chriſten als einzelne zer-
ſplittert, und einzeln preisgegeben den Mächten des
Unglaubens würden ſie von dieſen leicht überwunden
werden. Erſt in der Gemeinſchaft werden ſie ſtark.
Es handelt ſich alſo nicht um Gemeinden, die nichts
weiter ſind als zufällige Vereinigungen am Sonntag.

Das Gemeindeleben darf nicht aufgehen in den
Gottesdienſten am Sonntagmorgen; auch mit der Sonn-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0378" n="364"/>
gewinnt Kirchgehen und Predigt er&#x017F;t dann Intere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
und Anziehungskraft, wenn er dem Prediger per&#x017F;önlich<lb/>
nahe &#x017F;teht. Ein Prediger, den er nicht kennt, kann ihn<lb/>
auf die Dauer nicht befriedigen, und wäre er &#x017F;elb&#x017F;t der<lb/>
vorzüglich&#x017F;te Redner. Lebendige per&#x017F;önliche Beziehungen<lb/>
des Seel&#x017F;orgers zu &#x017F;einen Gläubigen &#x017F;ind darum für<lb/>
die heidenchri&#x017F;tliche Gemeinde geradezu eine Lebensfrage.<lb/>
Wo &#x017F;ie fehlen, geht alles zu Grunde.</p><lb/>
        <p>Der Mi&#x017F;&#x017F;ionar erhält aber einen bedeutenden Bun-<lb/>
desgeno&#x017F;&#x017F;en in der Gemeinde. Für den japani&#x017F;chen<lb/>
Chri&#x017F;ten, welcher in &#x017F;einem Leben nie in vollem Sinne<lb/>
erfahren hat, was Freiheit und Selb&#x017F;tändigkeit i&#x017F;t, der<lb/>
vielmehr als Glied der Familie und des Volks in<lb/>
Familie und Volk &#x017F;einen natürlichen Rückhalt hatte,<lb/>
bedeutet die Gemein&#x017F;chaft etwas ganz anderes als für<lb/>
uns. Der einzelne will von der Gemein&#x017F;chaft getragen<lb/>
&#x017F;ein. Die Gemeinde muß ihm das er&#x017F;etzen, was ihm<lb/>
zuvor die Familie gewe&#x017F;en i&#x017F;t. Die Mi&#x017F;&#x017F;ionsgemeinde<lb/>
muß darum etwas ganz anderes &#x017F;ein, als die Durch-<lb/>
&#x017F;chnittsgemeinde in un&#x017F;eren Landen. Sie muß in vollem<lb/>
Sinne ein lebendiger Organismus, eine gei&#x017F;tliche Fa-<lb/>
milie &#x017F;ein. Gemeinden wie die un&#x017F;rigen in der Hei-<lb/>
mat, wo &#x017F;ich der Gläubige höch&#x017F;tens einmal Sonntags<lb/>
bewußt wird, daß er das Glied einer Gemein&#x017F;chaft i&#x017F;t,<lb/>
wären auf dem Mi&#x017F;&#x017F;ionsgebiete von kurzer Dauer. Denn<lb/>
die Woche über wären die Chri&#x017F;ten als einzelne zer-<lb/>
&#x017F;plittert, und einzeln preisgegeben den Mächten des<lb/>
Unglaubens würden &#x017F;ie von die&#x017F;en leicht überwunden<lb/>
werden. Er&#x017F;t in der Gemein&#x017F;chaft werden &#x017F;ie &#x017F;tark.<lb/>
Es handelt &#x017F;ich al&#x017F;o nicht um Gemeinden, die nichts<lb/>
weiter &#x017F;ind als zufällige Vereinigungen am Sonntag.</p><lb/>
        <p>Das Gemeindeleben darf nicht aufgehen in den<lb/>
Gottesdien&#x017F;ten am Sonntagmorgen; auch mit der Sonn-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[364/0378] gewinnt Kirchgehen und Predigt erſt dann Intereſſe und Anziehungskraft, wenn er dem Prediger perſönlich nahe ſteht. Ein Prediger, den er nicht kennt, kann ihn auf die Dauer nicht befriedigen, und wäre er ſelbſt der vorzüglichſte Redner. Lebendige perſönliche Beziehungen des Seelſorgers zu ſeinen Gläubigen ſind darum für die heidenchriſtliche Gemeinde geradezu eine Lebensfrage. Wo ſie fehlen, geht alles zu Grunde. Der Miſſionar erhält aber einen bedeutenden Bun- desgenoſſen in der Gemeinde. Für den japaniſchen Chriſten, welcher in ſeinem Leben nie in vollem Sinne erfahren hat, was Freiheit und Selbſtändigkeit iſt, der vielmehr als Glied der Familie und des Volks in Familie und Volk ſeinen natürlichen Rückhalt hatte, bedeutet die Gemeinſchaft etwas ganz anderes als für uns. Der einzelne will von der Gemeinſchaft getragen ſein. Die Gemeinde muß ihm das erſetzen, was ihm zuvor die Familie geweſen iſt. Die Miſſionsgemeinde muß darum etwas ganz anderes ſein, als die Durch- ſchnittsgemeinde in unſeren Landen. Sie muß in vollem Sinne ein lebendiger Organismus, eine geiſtliche Fa- milie ſein. Gemeinden wie die unſrigen in der Hei- mat, wo ſich der Gläubige höchſtens einmal Sonntags bewußt wird, daß er das Glied einer Gemeinſchaft iſt, wären auf dem Miſſionsgebiete von kurzer Dauer. Denn die Woche über wären die Chriſten als einzelne zer- ſplittert, und einzeln preisgegeben den Mächten des Unglaubens würden ſie von dieſen leicht überwunden werden. Erſt in der Gemeinſchaft werden ſie ſtark. Es handelt ſich alſo nicht um Gemeinden, die nichts weiter ſind als zufällige Vereinigungen am Sonntag. Das Gemeindeleben darf nicht aufgehen in den Gottesdienſten am Sonntagmorgen; auch mit der Sonn-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/378
Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/378>, abgerufen am 22.11.2024.