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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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die Seelsorge- und Predigtarbeit an unserer Hongo-
gemeinde allein auf meinen Schultern lag, so kann ich
es nicht ohne tiefe Wehmut, da ich mir bewußt bin,
daß meine auch noch anderweitig stark in Anspruch ge-
nommenen Kräfte viel zu schwach waren, um allen An-
forderungen zu genügen.

Das ganze evangelische Christentum Japans mit
Ausnahme der ritualistischen bischöflichen Kirche trägt den
puritanischen Charakter der englisch-amerikanischen Sekten.
Auf das Äußere wird nicht das geringste Gewicht gelegt.
Wenn der amerikanische Missionar auf seinem Zweirad
durch die Straßen von Tokyo fährt, in kurzen Knie-
hosen und hellbrauner Joppe, mit strammem Schnurr-
bart auf der Oberlippe, so sieht ihm kein Mensch den
geistlichen Stand an. Und mit dem japanischen Pastor
ist es nicht anders. Selbst im Amte verschmäht man
es, die pastorale Würde durch äußere Mittel zu heben.
Auf der Kanzel erscheint der Prediger im gewöhnlichen
Kleid; der Talar ist gänzlich unbekannt. Keine Liturgie
unterbricht den strengen Gang des Gottesdienstes.
Japan besitzt jetzt eine stattliche Anzahl großer Kirchen,
mit Sitzplätzen von dreihundert bis tausend und mehr
Personen; man hat bei manchen derselben nach außen
die Ornamentik nicht verschmäht; im Innern aber
sind sie gleichmäßig öde und kahl; ihr einziger Schmuck
ist in der Regel ein kurzer Bibelspruch, der in einfachen
Lettern oder in künstlerischer Ausführung über dem
Predigtpult angebracht ist. Ebensowenig wie der ja-
panische Gottesdienst äußerlich das Gepräge des Feier-
lichen trägt, ist das Gotteshaus imstande, den Ein-
tretenden unmittelbar in fromme Stimmung und weihe-
volle Andacht zu versetzen. Kleine Türmchen zur Ver-
zierung sieht man wohl hier und da; aber keinen hoch-

die Seelſorge- und Predigtarbeit an unſerer Hongo-
gemeinde allein auf meinen Schultern lag, ſo kann ich
es nicht ohne tiefe Wehmut, da ich mir bewußt bin,
daß meine auch noch anderweitig ſtark in Anſpruch ge-
nommenen Kräfte viel zu ſchwach waren, um allen An-
forderungen zu genügen.

Das ganze evangeliſche Chriſtentum Japans mit
Ausnahme der ritualiſtiſchen biſchöflichen Kirche trägt den
puritaniſchen Charakter der engliſch-amerikaniſchen Sekten.
Auf das Äußere wird nicht das geringſte Gewicht gelegt.
Wenn der amerikaniſche Miſſionar auf ſeinem Zweirad
durch die Straßen von Tokyo fährt, in kurzen Knie-
hoſen und hellbrauner Joppe, mit ſtrammem Schnurr-
bart auf der Oberlippe, ſo ſieht ihm kein Menſch den
geiſtlichen Stand an. Und mit dem japaniſchen Paſtor
iſt es nicht anders. Selbſt im Amte verſchmäht man
es, die paſtorale Würde durch äußere Mittel zu heben.
Auf der Kanzel erſcheint der Prediger im gewöhnlichen
Kleid; der Talar iſt gänzlich unbekannt. Keine Liturgie
unterbricht den ſtrengen Gang des Gottesdienſtes.
Japan beſitzt jetzt eine ſtattliche Anzahl großer Kirchen,
mit Sitzplätzen von dreihundert bis tauſend und mehr
Perſonen; man hat bei manchen derſelben nach außen
die Ornamentik nicht verſchmäht; im Innern aber
ſind ſie gleichmäßig öde und kahl; ihr einziger Schmuck
iſt in der Regel ein kurzer Bibelſpruch, der in einfachen
Lettern oder in künſtleriſcher Ausführung über dem
Predigtpult angebracht iſt. Ebenſowenig wie der ja-
paniſche Gottesdienſt äußerlich das Gepräge des Feier-
lichen trägt, iſt das Gotteshaus imſtande, den Ein-
tretenden unmittelbar in fromme Stimmung und weihe-
volle Andacht zu verſetzen. Kleine Türmchen zur Ver-
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[366/0380] die Seelſorge- und Predigtarbeit an unſerer Hongo- gemeinde allein auf meinen Schultern lag, ſo kann ich es nicht ohne tiefe Wehmut, da ich mir bewußt bin, daß meine auch noch anderweitig ſtark in Anſpruch ge- nommenen Kräfte viel zu ſchwach waren, um allen An- forderungen zu genügen. Das ganze evangeliſche Chriſtentum Japans mit Ausnahme der ritualiſtiſchen biſchöflichen Kirche trägt den puritaniſchen Charakter der engliſch-amerikaniſchen Sekten. Auf das Äußere wird nicht das geringſte Gewicht gelegt. Wenn der amerikaniſche Miſſionar auf ſeinem Zweirad durch die Straßen von Tokyo fährt, in kurzen Knie- hoſen und hellbrauner Joppe, mit ſtrammem Schnurr- bart auf der Oberlippe, ſo ſieht ihm kein Menſch den geiſtlichen Stand an. Und mit dem japaniſchen Paſtor iſt es nicht anders. Selbſt im Amte verſchmäht man es, die paſtorale Würde durch äußere Mittel zu heben. Auf der Kanzel erſcheint der Prediger im gewöhnlichen Kleid; der Talar iſt gänzlich unbekannt. Keine Liturgie unterbricht den ſtrengen Gang des Gottesdienſtes. Japan beſitzt jetzt eine ſtattliche Anzahl großer Kirchen, mit Sitzplätzen von dreihundert bis tauſend und mehr Perſonen; man hat bei manchen derſelben nach außen die Ornamentik nicht verſchmäht; im Innern aber ſind ſie gleichmäßig öde und kahl; ihr einziger Schmuck iſt in der Regel ein kurzer Bibelſpruch, der in einfachen Lettern oder in künſtleriſcher Ausführung über dem Predigtpult angebracht iſt. Ebenſowenig wie der ja- paniſche Gottesdienſt äußerlich das Gepräge des Feier- lichen trägt, iſt das Gotteshaus imſtande, den Ein- tretenden unmittelbar in fromme Stimmung und weihe- volle Andacht zu verſetzen. Kleine Türmchen zur Ver- zierung ſieht man wohl hier und da; aber keinen hoch-

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/380>, abgerufen am 17.06.2024.