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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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es aber heute Sitte geworden, daß der Geistliche mit
dem Glockenschlag das Predigtpult betritt.

Die gottesdienstlichen Gebete werden frei vorge-
tragen. Unter den evangelischen Gemeinden sind es
nur diejenigen der episkopalen Kirchen, welche gedruckte
Vorlagen benutzen, und zwar die des "Common Prayer
Book",
das in das Japanische übertragen ist und
ebenso wie in der Church of England die Grundlage
des Gottesdienstes bildet. Die japanischen Christen kön-
nen frei beten, und zwar jeder einzelne. In den
mancherlei Andachten und Zusammenkünften, welche alle
mindestens mit Gebet beginnen und schließen, lernt sich
das bald. Da fordert der Pastor, wenn er das Gebet
nicht selbst spricht, irgend einen aus der Gemeinde dazu
auf. Ich erinnere mich, wie einst ein junger Christ,
welcher in Deutschland philosophischen und zum Teil
auch theologischen Studien obgelegen hatte und erst
kürzlich nach Japan zurückgekehrt war, einer Gemeinde-
versammlung in Tokyo anwohnte. Der Leiter der Ver-
sammlung wollte ihm eine besondere Ehre erweisen und
forderte ihn auf, zu beten. Der junge Mann war aber
offenbar im Verkehr mit den deutschen Studenten der
Theologie etwas außer Übung gekommen, die Auf-
forderung hatte auf ihn die Wirkung einer platzenden
Bombe. Er geriet in die größte Verlegenheit, und mit
dem Beten wollte es nicht gehen. Aber um seine theo-
logische Reputation war es seitdem geschehen. Auch
unsere Mission kennt Formulare nur für Taufe und
Abendmahl. Alle übrigen Gebete sind frei.

Für das Missionsfeld -- denn von der heimischen
Kirche zu sprechen ist hier nicht der Ort -- halte ich
das für das richtige. Die Redensart von dem freien
Walten des Geistes ist doch nicht schlechtweg eine Phrase.
Gerade bei dem Gebet kann es leicht wahr werden:

es aber heute Sitte geworden, daß der Geiſtliche mit
dem Glockenſchlag das Predigtpult betritt.

Die gottesdienſtlichen Gebete werden frei vorge-
tragen. Unter den evangeliſchen Gemeinden ſind es
nur diejenigen der episkopalen Kirchen, welche gedruckte
Vorlagen benutzen, und zwar die des „Common Prayer
Book“,
das in das Japaniſche übertragen iſt und
ebenſo wie in der Church of England die Grundlage
des Gottesdienſtes bildet. Die japaniſchen Chriſten kön-
nen frei beten, und zwar jeder einzelne. In den
mancherlei Andachten und Zuſammenkünften, welche alle
mindeſtens mit Gebet beginnen und ſchließen, lernt ſich
das bald. Da fordert der Paſtor, wenn er das Gebet
nicht ſelbſt ſpricht, irgend einen aus der Gemeinde dazu
auf. Ich erinnere mich, wie einſt ein junger Chriſt,
welcher in Deutſchland philoſophiſchen und zum Teil
auch theologiſchen Studien obgelegen hatte und erſt
kürzlich nach Japan zurückgekehrt war, einer Gemeinde-
verſammlung in Tokyo anwohnte. Der Leiter der Ver-
ſammlung wollte ihm eine beſondere Ehre erweiſen und
forderte ihn auf, zu beten. Der junge Mann war aber
offenbar im Verkehr mit den deutſchen Studenten der
Theologie etwas außer Übung gekommen, die Auf-
forderung hatte auf ihn die Wirkung einer platzenden
Bombe. Er geriet in die größte Verlegenheit, und mit
dem Beten wollte es nicht gehen. Aber um ſeine theo-
logiſche Reputation war es ſeitdem geſchehen. Auch
unſere Miſſion kennt Formulare nur für Taufe und
Abendmahl. Alle übrigen Gebete ſind frei.

Für das Miſſionsfeld — denn von der heimiſchen
Kirche zu ſprechen iſt hier nicht der Ort — halte ich
das für das richtige. Die Redensart von dem freien
Walten des Geiſtes iſt doch nicht ſchlechtweg eine Phraſe.
Gerade bei dem Gebet kann es leicht wahr werden:

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[370/0384] es aber heute Sitte geworden, daß der Geiſtliche mit dem Glockenſchlag das Predigtpult betritt. Die gottesdienſtlichen Gebete werden frei vorge- tragen. Unter den evangeliſchen Gemeinden ſind es nur diejenigen der episkopalen Kirchen, welche gedruckte Vorlagen benutzen, und zwar die des „Common Prayer Book“, das in das Japaniſche übertragen iſt und ebenſo wie in der Church of England die Grundlage des Gottesdienſtes bildet. Die japaniſchen Chriſten kön- nen frei beten, und zwar jeder einzelne. In den mancherlei Andachten und Zuſammenkünften, welche alle mindeſtens mit Gebet beginnen und ſchließen, lernt ſich das bald. Da fordert der Paſtor, wenn er das Gebet nicht ſelbſt ſpricht, irgend einen aus der Gemeinde dazu auf. Ich erinnere mich, wie einſt ein junger Chriſt, welcher in Deutſchland philoſophiſchen und zum Teil auch theologiſchen Studien obgelegen hatte und erſt kürzlich nach Japan zurückgekehrt war, einer Gemeinde- verſammlung in Tokyo anwohnte. Der Leiter der Ver- ſammlung wollte ihm eine beſondere Ehre erweiſen und forderte ihn auf, zu beten. Der junge Mann war aber offenbar im Verkehr mit den deutſchen Studenten der Theologie etwas außer Übung gekommen, die Auf- forderung hatte auf ihn die Wirkung einer platzenden Bombe. Er geriet in die größte Verlegenheit, und mit dem Beten wollte es nicht gehen. Aber um ſeine theo- logiſche Reputation war es ſeitdem geſchehen. Auch unſere Miſſion kennt Formulare nur für Taufe und Abendmahl. Alle übrigen Gebete ſind frei. Für das Miſſionsfeld — denn von der heimiſchen Kirche zu ſprechen iſt hier nicht der Ort — halte ich das für das richtige. Die Redensart von dem freien Walten des Geiſtes iſt doch nicht ſchlechtweg eine Phraſe. Gerade bei dem Gebet kann es leicht wahr werden:

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/384>, abgerufen am 22.11.2024.