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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Eigentümlich ist die japanische Wiedergabe unseres
Sollens, Müssens und Dürfens. Sollen, Müssen und
Dürfen liegen in der Zukunft. Hätte der Japaner für
sie voll entsprechende Worte, so müßte er ebensogut ein
ausgebildetes Futurum haben. Wie das letztere, so fehlt
ihm aber auch eine direkte Bezeichnung jener Formen.
Er muß umschreiben, so daß das deutsche "muß thun"
durch "seneba ikenai", wörtlich: "Wenn man nicht thut,
geht's nicht" wiederzugeben ist. "Wie soll man's machen"
ist "do shitara yokaro ka" wörtlich: "Wenn man es wie
gethan hat, ist es gut?" Der deutsche Satz enthält eine
ethische Forderung, wie sie in dem Wort "soll" auch
etymologisch noch klar zum Vorschein kommt, da "soll"
gemeinsamen Stammes mit "Schuld" ist; man vergleiche
nur das englische "should" gleich "sollte", wo die Ver-
wandtschaft mit Schuld sofort einleuchtet. "Du sollst"
ist also "du schuldest". Der Japaner aber setzt einfach
einen Urteilssatz beruhend auf dem Grunde der Er-
fahrung, aus welchem die ethische Forderung nicht er-
sichtlich ist. Es ist ohne Zweifel charakteristisch, daß in
den einzigen Formen des Verbums, wo das ethische
Moment in den Vordergrund zu treten Gelegenheit hat,
dasselbe beim japanischen Ausdruck überhaupt nicht vor-
handen ist. Der japanische Ausdruck klingt utilitaristisch.

Eine der interessantesten Formen des Verbums ist
das Negativum. Der Japaner hat kein entsprechendes
Wort für "nicht". Ebenso wenig kennt die Sprache
negative Pronomina oder Adverbien. Begriffe wie
"niemand, kein, nichts, nirgends, niemals" etc. haben
kein japanisches Äquivalent. In der That sind für den
wahrnehmenden Geist solche Vorstellungen Unmöglich-
keiten. Ein "niemand", "nirgends" oder "niemals" ist
ein Unding, das es nicht giebt. Eine derartige Negation

Eigentümlich iſt die japaniſche Wiedergabe unſeres
Sollens, Müſſens und Dürfens. Sollen, Müſſen und
Dürfen liegen in der Zukunft. Hätte der Japaner für
ſie voll entſprechende Worte, ſo müßte er ebenſogut ein
ausgebildetes Futurum haben. Wie das letztere, ſo fehlt
ihm aber auch eine direkte Bezeichnung jener Formen.
Er muß umſchreiben, ſo daß das deutſche „muß thun“
durch „seneba ikenai“, wörtlich: „Wenn man nicht thut,
geht’s nicht“ wiederzugeben iſt. „Wie ſoll man’s machen“
iſt „dō shitara yokarō ka“ wörtlich: „Wenn man es wie
gethan hat, iſt es gut?“ Der deutſche Satz enthält eine
ethiſche Forderung, wie ſie in dem Wort „ſoll“ auch
etymologiſch noch klar zum Vorſchein kommt, da „ſoll“
gemeinſamen Stammes mit „Schuld“ iſt; man vergleiche
nur das engliſche „should“ gleich „ſollte“, wo die Ver-
wandtſchaft mit Schuld ſofort einleuchtet. „Du ſollſt“
iſt alſo „du ſchuldeſt“. Der Japaner aber ſetzt einfach
einen Urteilsſatz beruhend auf dem Grunde der Er-
fahrung, aus welchem die ethiſche Forderung nicht er-
ſichtlich iſt. Es iſt ohne Zweifel charakteriſtiſch, daß in
den einzigen Formen des Verbums, wo das ethiſche
Moment in den Vordergrund zu treten Gelegenheit hat,
dasſelbe beim japaniſchen Ausdruck überhaupt nicht vor-
handen iſt. Der japaniſche Ausdruck klingt utilitariſtiſch.

Eine der intereſſanteſten Formen des Verbums iſt
das Negativum. Der Japaner hat kein entſprechendes
Wort für „nicht“. Ebenſo wenig kennt die Sprache
negative Pronomina oder Adverbien. Begriffe wie
„niemand, kein, nichts, nirgends, niemals“ ꝛc. haben
kein japaniſches Äquivalent. In der That ſind für den
wahrnehmenden Geiſt ſolche Vorſtellungen Unmöglich-
keiten. Ein „niemand“, „nirgends“ oder „niemals“ iſt
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[52/0066] Eigentümlich iſt die japaniſche Wiedergabe unſeres Sollens, Müſſens und Dürfens. Sollen, Müſſen und Dürfen liegen in der Zukunft. Hätte der Japaner für ſie voll entſprechende Worte, ſo müßte er ebenſogut ein ausgebildetes Futurum haben. Wie das letztere, ſo fehlt ihm aber auch eine direkte Bezeichnung jener Formen. Er muß umſchreiben, ſo daß das deutſche „muß thun“ durch „seneba ikenai“, wörtlich: „Wenn man nicht thut, geht’s nicht“ wiederzugeben iſt. „Wie ſoll man’s machen“ iſt „dō shitara yokarō ka“ wörtlich: „Wenn man es wie gethan hat, iſt es gut?“ Der deutſche Satz enthält eine ethiſche Forderung, wie ſie in dem Wort „ſoll“ auch etymologiſch noch klar zum Vorſchein kommt, da „ſoll“ gemeinſamen Stammes mit „Schuld“ iſt; man vergleiche nur das engliſche „should“ gleich „ſollte“, wo die Ver- wandtſchaft mit Schuld ſofort einleuchtet. „Du ſollſt“ iſt alſo „du ſchuldeſt“. Der Japaner aber ſetzt einfach einen Urteilsſatz beruhend auf dem Grunde der Er- fahrung, aus welchem die ethiſche Forderung nicht er- ſichtlich iſt. Es iſt ohne Zweifel charakteriſtiſch, daß in den einzigen Formen des Verbums, wo das ethiſche Moment in den Vordergrund zu treten Gelegenheit hat, dasſelbe beim japaniſchen Ausdruck überhaupt nicht vor- handen iſt. Der japaniſche Ausdruck klingt utilitariſtiſch. Eine der intereſſanteſten Formen des Verbums iſt das Negativum. Der Japaner hat kein entſprechendes Wort für „nicht“. Ebenſo wenig kennt die Sprache negative Pronomina oder Adverbien. Begriffe wie „niemand, kein, nichts, nirgends, niemals“ ꝛc. haben kein japaniſches Äquivalent. In der That ſind für den wahrnehmenden Geiſt ſolche Vorſtellungen Unmöglich- keiten. Ein „niemand“, „nirgends“ oder „niemals“ iſt ein Unding, das es nicht giebt. Eine derartige Negation

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/66>, abgerufen am 25.05.2024.