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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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beitete, ausgebildet hat, und welches wir nicht sowohl
psychologisch als vielmehr geschichtlich verstehen müssen.
Denn der Grund der Ausbildung liegt, abgesehen von
Feinfühlichkeit, nicht in besonderen Gemütsverhältnissen
des Japaners, sondern in äußeren Kulturzuständen. Den
strikten Standesunterschieden früherer Zeiten verdankt
die Höflichkeitssprache ihre heutige Blüte. Wo die
Standesunterschiede verschwinden und das Individuali-
tätsbewußtsein mehr zum Vorschein kommt, da wird der
Mensch, seines Ich bewußt, persönlich, da entschwindet
der Höflichkeitssprache der Boden. Und wie sie sich
darum in England und Amerika, wo man "ich" mit
einem großen und "Sie" mit einem kleinen Anfangs-
buchstaben schreibt, am wenigsten findet, so wird sie auch
in Japan bei der raschen Entwicklung des Individua-
lismus in wenigen Jahrzehnten bedeutend an Feld ver-
loren haben. --

Das also ist die japanische Umgangssprache. Nicht
durch das ganze Volk hin wird sie in ihrer ursprünglichen
Reinheit gesprochen. Vielmehr ist die Rede des Gebil-
deten für den gewöhnlichen Mann bis zur Unverständ-
lichkeit mit chinesischen Wörtern und aus der Schrift-
sprache entlehnten Redeformen durchsetzt. Nur die ge-
schriebene Sprache hat sich bisher einer wissenschaftlichen
Beachtung erfreuen dürfen, während die Gebildeten auf
die Sprache des Volkes mit Verachtung herabschauten.
Und doch hat die Umgangssprache allein Aussicht, die
Sprache der Zukunft zu sein. Freilich muß sie dazu
eine Anzahl Begriffe bezw. Wörter aus der Schrift-
sprache herübernehmen. Doch kann das ohne große
Schwierigkeiten geschehen. Schwieriger ist die Aufgabe,
die grammatische und logische Form der Sprache über
die Wahrnehmungsstufe hinaus zu entwickeln. Denn

beitete, ausgebildet hat, und welches wir nicht ſowohl
pſychologiſch als vielmehr geſchichtlich verſtehen müſſen.
Denn der Grund der Ausbildung liegt, abgeſehen von
Feinfühlichkeit, nicht in beſonderen Gemütsverhältniſſen
des Japaners, ſondern in äußeren Kulturzuſtänden. Den
ſtrikten Standesunterſchieden früherer Zeiten verdankt
die Höflichkeitsſprache ihre heutige Blüte. Wo die
Standesunterſchiede verſchwinden und das Individuali-
tätsbewußtſein mehr zum Vorſchein kommt, da wird der
Menſch, ſeines Ich bewußt, perſönlich, da entſchwindet
der Höflichkeitsſprache der Boden. Und wie ſie ſich
darum in England und Amerika, wo man „ich“ mit
einem großen und „Sie“ mit einem kleinen Anfangs-
buchſtaben ſchreibt, am wenigſten findet, ſo wird ſie auch
in Japan bei der raſchen Entwicklung des Individua-
lismus in wenigen Jahrzehnten bedeutend an Feld ver-
loren haben. —

Das alſo iſt die japaniſche Umgangsſprache. Nicht
durch das ganze Volk hin wird ſie in ihrer urſprünglichen
Reinheit geſprochen. Vielmehr iſt die Rede des Gebil-
deten für den gewöhnlichen Mann bis zur Unverſtänd-
lichkeit mit chineſiſchen Wörtern und aus der Schrift-
ſprache entlehnten Redeformen durchſetzt. Nur die ge-
ſchriebene Sprache hat ſich bisher einer wiſſenſchaftlichen
Beachtung erfreuen dürfen, während die Gebildeten auf
die Sprache des Volkes mit Verachtung herabſchauten.
Und doch hat die Umgangsſprache allein Ausſicht, die
Sprache der Zukunft zu ſein. Freilich muß ſie dazu
eine Anzahl Begriffe bezw. Wörter aus der Schrift-
ſprache herübernehmen. Doch kann das ohne große
Schwierigkeiten geſchehen. Schwieriger iſt die Aufgabe,
die grammatiſche und logiſche Form der Sprache über
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[58/0072] beitete, ausgebildet hat, und welches wir nicht ſowohl pſychologiſch als vielmehr geſchichtlich verſtehen müſſen. Denn der Grund der Ausbildung liegt, abgeſehen von Feinfühlichkeit, nicht in beſonderen Gemütsverhältniſſen des Japaners, ſondern in äußeren Kulturzuſtänden. Den ſtrikten Standesunterſchieden früherer Zeiten verdankt die Höflichkeitsſprache ihre heutige Blüte. Wo die Standesunterſchiede verſchwinden und das Individuali- tätsbewußtſein mehr zum Vorſchein kommt, da wird der Menſch, ſeines Ich bewußt, perſönlich, da entſchwindet der Höflichkeitsſprache der Boden. Und wie ſie ſich darum in England und Amerika, wo man „ich“ mit einem großen und „Sie“ mit einem kleinen Anfangs- buchſtaben ſchreibt, am wenigſten findet, ſo wird ſie auch in Japan bei der raſchen Entwicklung des Individua- lismus in wenigen Jahrzehnten bedeutend an Feld ver- loren haben. — Das alſo iſt die japaniſche Umgangsſprache. Nicht durch das ganze Volk hin wird ſie in ihrer urſprünglichen Reinheit geſprochen. Vielmehr iſt die Rede des Gebil- deten für den gewöhnlichen Mann bis zur Unverſtänd- lichkeit mit chineſiſchen Wörtern und aus der Schrift- ſprache entlehnten Redeformen durchſetzt. Nur die ge- ſchriebene Sprache hat ſich bisher einer wiſſenſchaftlichen Beachtung erfreuen dürfen, während die Gebildeten auf die Sprache des Volkes mit Verachtung herabſchauten. Und doch hat die Umgangsſprache allein Ausſicht, die Sprache der Zukunft zu ſein. Freilich muß ſie dazu eine Anzahl Begriffe bezw. Wörter aus der Schrift- ſprache herübernehmen. Doch kann das ohne große Schwierigkeiten geſchehen. Schwieriger iſt die Aufgabe, die grammatiſche und logiſche Form der Sprache über die Wahrnehmungsſtufe hinaus zu entwickeln. Denn

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/72>, abgerufen am 24.11.2024.