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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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des Engländers sucht man hier vergebens. Der Gesang
ist nicht Gemeingut des ganzen Volkes. Daß eine ge-
mütliche Gesellschaft einmal einen Chor anstimmt, giebt
es nicht. Der Gesang wird nur berufsmäßig ausge-
übt. Ich will nicht sagen, daß in dem Gesang kein
Gemüt liegt; aber jedenfalls ist es für den Abendländer
sehr schwer, aus diesen Tönen Gemüt herauszuhören.
Die Poesie, ganz abgesehen davon, daß sie gleich der Musik
nicht original ist, besitzt weder besondere Tiefe noch Innig-
keit. Es giebt Übersetzungen japanischer Gedichte in das
Deutsche und Englische, die sich sehr angenehm lesen.
Man sagt ihnen aber nicht ganz ohne Grund nach, daß
die Übersetzung schöner sei als das Original. Dabei
macht in Japan aber jedermann Gedichte; aber auch
jedes Gedicht, wenn es nur der benötigten Silbenzahl
gerecht geworden ist -- denn es handelt sich weder um
Rhythmus noch um Reim --, findet seine Bewunderer.
Das einzige Gebiet, auf wechem das Volk wirklich etwas
geleistet hat, ist das Märchen; und daß es einen sehr
großen Schatz äußerst treffender Sprichwörter hat, die
sich mitunter mit den unsrigen geradezu decken, ist nur
im Einklang mit seinem ganzen Geistesleben. Denn
die Heimat des Sprichworts ist weder die Phantasie
noch die Poesie noch die Spekulation, sondern die nüch-
terne praktische Wirklichkeit.

Aber steht denn damit nicht im Widerspruch, daß der
Japaner eine hohe Achtung vor der Wissenschaft hat, und,
wie ja schon die Zahl der japanischen Studierenden in
Deutschland beweist, auch selbstthätig für die Wissenschaft
eintritt? Gewiß ist das ein schöner und idealer Charakter-
zug, daß ihm das Wissen höher steht als etwa das
Geld, aber für die idealistische Natur des japanischen
Geistes beweist er noch nichts. Es sind in den letzten

des Engländers ſucht man hier vergebens. Der Geſang
iſt nicht Gemeingut des ganzen Volkes. Daß eine ge-
mütliche Geſellſchaft einmal einen Chor anſtimmt, giebt
es nicht. Der Geſang wird nur berufsmäßig ausge-
übt. Ich will nicht ſagen, daß in dem Geſang kein
Gemüt liegt; aber jedenfalls iſt es für den Abendländer
ſehr ſchwer, aus dieſen Tönen Gemüt herauszuhören.
Die Poeſie, ganz abgeſehen davon, daß ſie gleich der Muſik
nicht original iſt, beſitzt weder beſondere Tiefe noch Innig-
keit. Es giebt Überſetzungen japaniſcher Gedichte in das
Deutſche und Engliſche, die ſich ſehr angenehm leſen.
Man ſagt ihnen aber nicht ganz ohne Grund nach, daß
die Überſetzung ſchöner ſei als das Original. Dabei
macht in Japan aber jedermann Gedichte; aber auch
jedes Gedicht, wenn es nur der benötigten Silbenzahl
gerecht geworden iſt — denn es handelt ſich weder um
Rhythmus noch um Reim —, findet ſeine Bewunderer.
Das einzige Gebiet, auf wechem das Volk wirklich etwas
geleiſtet hat, iſt das Märchen; und daß es einen ſehr
großen Schatz äußerſt treffender Sprichwörter hat, die
ſich mitunter mit den unſrigen geradezu decken, iſt nur
im Einklang mit ſeinem ganzen Geiſtesleben. Denn
die Heimat des Sprichworts iſt weder die Phantaſie
noch die Poeſie noch die Spekulation, ſondern die nüch-
terne praktiſche Wirklichkeit.

Aber ſteht denn damit nicht im Widerſpruch, daß der
Japaner eine hohe Achtung vor der Wiſſenſchaft hat, und,
wie ja ſchon die Zahl der japaniſchen Studierenden in
Deutſchland beweiſt, auch ſelbſtthätig für die Wiſſenſchaft
eintritt? Gewiß iſt das ein ſchöner und idealer Charakter-
zug, daß ihm das Wiſſen höher ſteht als etwa das
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Geiſtes beweiſt er noch nichts. Es ſind in den letzten

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[74/0088] des Engländers ſucht man hier vergebens. Der Geſang iſt nicht Gemeingut des ganzen Volkes. Daß eine ge- mütliche Geſellſchaft einmal einen Chor anſtimmt, giebt es nicht. Der Geſang wird nur berufsmäßig ausge- übt. Ich will nicht ſagen, daß in dem Geſang kein Gemüt liegt; aber jedenfalls iſt es für den Abendländer ſehr ſchwer, aus dieſen Tönen Gemüt herauszuhören. Die Poeſie, ganz abgeſehen davon, daß ſie gleich der Muſik nicht original iſt, beſitzt weder beſondere Tiefe noch Innig- keit. Es giebt Überſetzungen japaniſcher Gedichte in das Deutſche und Engliſche, die ſich ſehr angenehm leſen. Man ſagt ihnen aber nicht ganz ohne Grund nach, daß die Überſetzung ſchöner ſei als das Original. Dabei macht in Japan aber jedermann Gedichte; aber auch jedes Gedicht, wenn es nur der benötigten Silbenzahl gerecht geworden iſt — denn es handelt ſich weder um Rhythmus noch um Reim —, findet ſeine Bewunderer. Das einzige Gebiet, auf wechem das Volk wirklich etwas geleiſtet hat, iſt das Märchen; und daß es einen ſehr großen Schatz äußerſt treffender Sprichwörter hat, die ſich mitunter mit den unſrigen geradezu decken, iſt nur im Einklang mit ſeinem ganzen Geiſtesleben. Denn die Heimat des Sprichworts iſt weder die Phantaſie noch die Poeſie noch die Spekulation, ſondern die nüch- terne praktiſche Wirklichkeit. Aber ſteht denn damit nicht im Widerſpruch, daß der Japaner eine hohe Achtung vor der Wiſſenſchaft hat, und, wie ja ſchon die Zahl der japaniſchen Studierenden in Deutſchland beweiſt, auch ſelbſtthätig für die Wiſſenſchaft eintritt? Gewiß iſt das ein ſchöner und idealer Charakter- zug, daß ihm das Wiſſen höher ſteht als etwa das Geld, aber für die idealiſtiſche Natur des japaniſchen Geiſtes beweiſt er noch nichts. Es ſind in den letzten

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/88>, abgerufen am 24.11.2024.