Jahren auf wissenschaftlichem Gebiet Erfolge erzielt worden, welche das Abendland in Erstaunen setzten. Aber -- und darauf kommt es an -- diese Erfolge waren die Resultate eines ungewöhnlichen Scharfsinns, nicht aber eines tiefsinnigen Denkens. Subtile Erfin- dungen zu machen, dazu sind die Japaner veranlagt, aber ein Volk von Philosophen werden sie nicht. Ihre seitherigen Erfolge lagen dementsprechend nicht auf dem Gebiet der reinen Geisteswissenschaften, sondern auf dem der empirischen Wissenschaften, und daß sie da etwas leisten, ist nach ihrer Veranlagung nur zu erwarten. Wenn unsere Ärzte von den geradezu musterhaften anatomischen Präparaten japanischer Mediziner sprechen, wenn unsere Chemiker und Bakteriologen die feinen Analysen ihrer japanischen Schüler rühmend hervorheben, so wundere ich mich darüber nicht im geringsten. Das Experimentieren ist ihre Sache. Was dazu notwendig ist, besitzen sie im höchsten Grade. Es ist nicht zufällig, daß in Japan die fähigsten Gymnasiasten sich der Me- dizin zuwenden, und daß die Medizin die tüchtigsten Kräfte aufzuweisen hat; ebenso ist die sichere und gedie- gene Arbeit der Militärärzte im japanisch-chinesischen Krieg hinreichend bekannt. Die angewandte Medizin ist nicht eine reine Geisteswissenschaft; sie ist mehr eine Kunst als eine Wissenschaft; ihr Gebiet reicht weit in das Sinnliche, in die Wahrnehmungsstufe hinein, und dort ist der Japaner zu Hause.
Das Ästhetische in dem weiten Kant'schen Sinne des Wortes ist sein Feld und infolgedessen ist es ganz na- türlich, daß er auch für das Ästhetische in der engeren landläufigen Bedeutung des Wortes einen ausgeprägten Sinn besitzt. Seine ganze Lebensführung darf als eine ästhetische bezeichnet werden. Eine gütige Fee hat ihm
Jahren auf wiſſenſchaftlichem Gebiet Erfolge erzielt worden, welche das Abendland in Erſtaunen ſetzten. Aber — und darauf kommt es an — dieſe Erfolge waren die Reſultate eines ungewöhnlichen Scharfſinns, nicht aber eines tiefſinnigen Denkens. Subtile Erfin- dungen zu machen, dazu ſind die Japaner veranlagt, aber ein Volk von Philoſophen werden ſie nicht. Ihre ſeitherigen Erfolge lagen dementſprechend nicht auf dem Gebiet der reinen Geiſteswiſſenſchaften, ſondern auf dem der empiriſchen Wiſſenſchaften, und daß ſie da etwas leiſten, iſt nach ihrer Veranlagung nur zu erwarten. Wenn unſere Ärzte von den geradezu muſterhaften anatomiſchen Präparaten japaniſcher Mediziner ſprechen, wenn unſere Chemiker und Bakteriologen die feinen Analyſen ihrer japaniſchen Schüler rühmend hervorheben, ſo wundere ich mich darüber nicht im geringſten. Das Experimentieren iſt ihre Sache. Was dazu notwendig iſt, beſitzen ſie im höchſten Grade. Es iſt nicht zufällig, daß in Japan die fähigſten Gymnaſiaſten ſich der Me- dizin zuwenden, und daß die Medizin die tüchtigſten Kräfte aufzuweiſen hat; ebenſo iſt die ſichere und gedie- gene Arbeit der Militärärzte im japaniſch-chineſiſchen Krieg hinreichend bekannt. Die angewandte Medizin iſt nicht eine reine Geiſteswiſſenſchaft; ſie iſt mehr eine Kunſt als eine Wiſſenſchaft; ihr Gebiet reicht weit in das Sinnliche, in die Wahrnehmungsſtufe hinein, und dort iſt der Japaner zu Hauſe.
Das Äſthetiſche in dem weiten Kant’ſchen Sinne des Wortes iſt ſein Feld und infolgedeſſen iſt es ganz na- türlich, daß er auch für das Äſthetiſche in der engeren landläufigen Bedeutung des Wortes einen ausgeprägten Sinn beſitzt. Seine ganze Lebensführung darf als eine äſthetiſche bezeichnet werden. Eine gütige Fee hat ihm
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Jahren auf wiſſenſchaftlichem Gebiet Erfolge erzielt
worden, welche das Abendland in Erſtaunen ſetzten.
Aber — und darauf kommt es an — dieſe Erfolge
waren die Reſultate eines ungewöhnlichen Scharfſinns,
nicht aber eines tiefſinnigen Denkens. Subtile Erfin-
dungen zu machen, dazu ſind die Japaner veranlagt,
aber ein Volk von Philoſophen werden ſie nicht. Ihre
ſeitherigen Erfolge lagen dementſprechend nicht auf dem
Gebiet der reinen Geiſteswiſſenſchaften, ſondern auf dem
der empiriſchen Wiſſenſchaften, und daß ſie da etwas
leiſten, iſt nach ihrer Veranlagung nur zu erwarten.
Wenn unſere Ärzte von den geradezu muſterhaften
anatomiſchen Präparaten japaniſcher Mediziner ſprechen,
wenn unſere Chemiker und Bakteriologen die feinen
Analyſen ihrer japaniſchen Schüler rühmend hervorheben,
ſo wundere ich mich darüber nicht im geringſten. Das
Experimentieren iſt ihre Sache. Was dazu notwendig
iſt, beſitzen ſie im höchſten Grade. Es iſt nicht zufällig,
daß in Japan die fähigſten Gymnaſiaſten ſich der Me-
dizin zuwenden, und daß die Medizin die tüchtigſten
Kräfte aufzuweiſen hat; ebenſo iſt die ſichere und gedie-
gene Arbeit der Militärärzte im japaniſch-chineſiſchen
Krieg hinreichend bekannt. Die angewandte Medizin
iſt nicht eine reine Geiſteswiſſenſchaft; ſie iſt mehr eine
Kunſt als eine Wiſſenſchaft; ihr Gebiet reicht weit in
das Sinnliche, in die Wahrnehmungsſtufe hinein, und
dort iſt der Japaner zu Hauſe.
Das Äſthetiſche in dem weiten Kant’ſchen Sinne des
Wortes iſt ſein Feld und infolgedeſſen iſt es ganz na-
türlich, daß er auch für das Äſthetiſche in der engeren
landläufigen Bedeutung des Wortes einen ausgeprägten
Sinn beſitzt. Seine ganze Lebensführung darf als eine
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/89>, abgerufen am 24.11.2024.
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