Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

wird, ist Theorie der Gelehrsamkeit. Jch
leugne nicht, daß das Gebiete der mensch-
lichen Erkenntniß, bey der Betriebsamkeit
des menschlichen Geistes, und der Leichtig-
keit diese Kenntniß mitzutheilen, täglich er-
weitert werde. Fragt man aber, ob diese
neuen Erweiterungen nicht größten Theils
ohne Nutzen sind; ob nicht unsere Zeitge-
nossen, durch den Reiz der Neuheit geblen-
det, die bereits entdekten, längst nüzlich
befundenen Kenntnisse, und die Mittel zn
Erlangung derselben verabsäumen, ob nicht
den sich dünkenden Vielwissern und Ver-
schlingern aller neuen Ausgebuhrten des
menschlichen Witzes und der menschlichen
Thorheit, das wiederfahren, was dem
Hunde in der Fabel begegnete, der nach
dem Schatten schnappte und die Realität
für seinen Magen darüber aus dem Mau-
le fallen ließ; ob man nicht mit den Wis-
senschaften wie mit den Nüssen spiele, nur
die äußere Schale betaste, und der Zähne
schone sie aufzubeissen, um zu dem schmak-
haften Kern derselben zu gelangen; ob also
nicht wahre Gelehrsamkeit täglich mehr in
Abnahme und Verfall gerathe: so muß
ich nach meiner gewissenhaften Ueberzeu-

gung,

wird, iſt Theorie der Gelehrſamkeit. Jch
leugne nicht, daß das Gebiete der menſch-
lichen Erkenntniß, bey der Betriebſamkeit
des menſchlichen Geiſtes, und der Leichtig-
keit dieſe Kenntniß mitzutheilen, taͤglich er-
weitert werde. Fragt man aber, ob dieſe
neuen Erweiterungen nicht groͤßten Theils
ohne Nutzen ſind; ob nicht unſere Zeitge-
noſſen, durch den Reiz der Neuheit geblen-
det, die bereits entdekten, laͤngſt nuͤzlich
befundenen Kenntniſſe, und die Mittel zn
Erlangung derſelben verabſaͤumen, ob nicht
den ſich duͤnkenden Vielwiſſern und Ver-
ſchlingern aller neuen Ausgebuhrten des
menſchlichen Witzes und der menſchlichen
Thorheit, das wiederfahren, was dem
Hunde in der Fabel begegnete, der nach
dem Schatten ſchnappte und die Realitaͤt
fuͤr ſeinen Magen daruͤber aus dem Mau-
le fallen ließ; ob man nicht mit den Wiſ-
ſenſchaften wie mit den Nuͤſſen ſpiele, nur
die aͤußere Schale betaſte, und der Zaͤhne
ſchone ſie aufzubeiſſen, um zu dem ſchmak-
haften Kern derſelben zu gelangen; ob alſo
nicht wahre Gelehrſamkeit taͤglich mehr in
Abnahme und Verfall gerathe: ſo muß
ich nach meiner gewiſſenhaften Ueberzeu-

gung,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0165" n="159"/>
wird, i&#x017F;t Theorie der Gelehr&#x017F;amkeit. Jch<lb/>
leugne nicht, daß das Gebiete der men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Erkenntniß, bey der Betrieb&#x017F;amkeit<lb/>
des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes, und der Leichtig-<lb/>
keit die&#x017F;e Kenntniß mitzutheilen, ta&#x0364;glich er-<lb/>
weitert werde. Fragt man aber, ob die&#x017F;e<lb/>
neuen Erweiterungen nicht gro&#x0364;ßten Theils<lb/>
ohne Nutzen &#x017F;ind; ob nicht un&#x017F;ere Zeitge-<lb/>
no&#x017F;&#x017F;en, durch den Reiz der Neuheit geblen-<lb/>
det, die bereits entdekten, la&#x0364;ng&#x017F;t nu&#x0364;zlich<lb/>
befundenen Kenntni&#x017F;&#x017F;e, und die Mittel zn<lb/>
Erlangung der&#x017F;elben verab&#x017F;a&#x0364;umen, ob nicht<lb/>
den &#x017F;ich du&#x0364;nkenden Vielwi&#x017F;&#x017F;ern und Ver-<lb/>
&#x017F;chlingern aller neuen Ausgebuhrten des<lb/>
men&#x017F;chlichen Witzes und der men&#x017F;chlichen<lb/>
Thorheit, das wiederfahren, was dem<lb/>
Hunde in der Fabel begegnete, der nach<lb/>
dem Schatten &#x017F;chnappte und die Realita&#x0364;t<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;einen Magen daru&#x0364;ber aus dem Mau-<lb/>
le fallen ließ; ob man nicht mit den Wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaften wie mit den Nu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;piele, nur<lb/>
die a&#x0364;ußere Schale beta&#x017F;te, und der Za&#x0364;hne<lb/>
&#x017F;chone &#x017F;ie aufzubei&#x017F;&#x017F;en, um zu dem &#x017F;chmak-<lb/>
haften Kern der&#x017F;elben zu gelangen; ob al&#x017F;o<lb/>
nicht wahre Gelehr&#x017F;amkeit ta&#x0364;glich mehr in<lb/>
Abnahme und Verfall gerathe: &#x017F;o muß<lb/>
ich nach meiner gewi&#x017F;&#x017F;enhaften Ueberzeu-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gung,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0165] wird, iſt Theorie der Gelehrſamkeit. Jch leugne nicht, daß das Gebiete der menſch- lichen Erkenntniß, bey der Betriebſamkeit des menſchlichen Geiſtes, und der Leichtig- keit dieſe Kenntniß mitzutheilen, taͤglich er- weitert werde. Fragt man aber, ob dieſe neuen Erweiterungen nicht groͤßten Theils ohne Nutzen ſind; ob nicht unſere Zeitge- noſſen, durch den Reiz der Neuheit geblen- det, die bereits entdekten, laͤngſt nuͤzlich befundenen Kenntniſſe, und die Mittel zn Erlangung derſelben verabſaͤumen, ob nicht den ſich duͤnkenden Vielwiſſern und Ver- ſchlingern aller neuen Ausgebuhrten des menſchlichen Witzes und der menſchlichen Thorheit, das wiederfahren, was dem Hunde in der Fabel begegnete, der nach dem Schatten ſchnappte und die Realitaͤt fuͤr ſeinen Magen daruͤber aus dem Mau- le fallen ließ; ob man nicht mit den Wiſ- ſenſchaften wie mit den Nuͤſſen ſpiele, nur die aͤußere Schale betaſte, und der Zaͤhne ſchone ſie aufzubeiſſen, um zu dem ſchmak- haften Kern derſelben zu gelangen; ob alſo nicht wahre Gelehrſamkeit taͤglich mehr in Abnahme und Verfall gerathe: ſo muß ich nach meiner gewiſſenhaften Ueberzeu- gung,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/165
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/165>, abgerufen am 21.11.2024.