Er ist Hieroglyphe, wie die egyptischen Denk- mäler. Trägt wohl mancher Obelist herr- liche Aufschrift, die gafft der Grübler an, hat's vor Augen und kan's nicht lesen, weil die Bedeutsamkeit der krausen Züg' verloh- ren ist. Käm aber einer, der eine einzi- ge Zeil entziffern könnt', so wär's keine Kunst alle zu lesen.
Freund, so gemahnt michs iust mit dem physiognomischen Ausdruck der Besessenheit. Wenn uns der heilige Lukas einen Kopf ei- nes notorisch Besessenen vorgezeichnet hätt, den die frommen Bischöff und Kirchenväter fleißig in Onyx und Karniol hätten eingra- ben lassen, daß der Zahn der Zeit daran nicht nagen können, so wär uns der wahr- lich! mehr werth als all' Original zur Lip- pertschen Daktyliothek. Denn so ließ sich bald der genuine Ausdruck der Verteufe- lung heraus studiren, und so könnt' man auch mit Gewißheit bestimmen, ob die Gaß- nerische von ächtem Schrot und Korn, oder ob sie postisch sey; aber da fehlt's eben, Bin ich daher der vesten Meinung, daß der eigentliche Sitz der Besessenheit, aus den Gesichtszügen so wenig heraus zu fin- den sey, als der eigentliche Sitz der Seel'
aus
Er iſt Hieroglyphe, wie die egyptiſchen Denk- maͤler. Traͤgt wohl mancher Obeliſt herr- liche Aufſchrift, die gafft der Gruͤbler an, hat’s vor Augen und kan’s nicht leſen, weil die Bedeutſamkeit der krauſen Zuͤg’ verloh- ren iſt. Kaͤm aber einer, der eine einzi- ge Zeil entziffern koͤnnt’, ſo waͤr’s keine Kunſt alle zu leſen.
Freund, ſo gemahnt michs iuſt mit dem phyſiognomiſchen Ausdruck der Beſeſſenheit. Wenn uns der heilige Lukas einen Kopf ei- nes notoriſch Beſeſſenen vorgezeichnet haͤtt, den die frommen Biſchoͤff und Kirchenvaͤter fleißig in Onyx und Karniol haͤtten eingra- ben laſſen, daß der Zahn der Zeit daran nicht nagen koͤnnen, ſo waͤr uns der wahr- lich! mehr werth als all’ Original zur Lip- pertſchen Daktyliothek. Denn ſo ließ ſich bald der genuine Ausdruck der Verteufe- lung heraus ſtudiren, und ſo koͤnnt’ man auch mit Gewißheit beſtimmen, ob die Gaß- neriſche von aͤchtem Schrot und Korn, oder ob ſie poſtiſch ſey; aber da fehlt’s eben, Bin ich daher der veſten Meinung, daß der eigentliche Sitz der Beſeſſenheit, aus den Geſichtszuͤgen ſo wenig heraus zu fin- den ſey, als der eigentliche Sitz der Seel’
aus
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0062"n="56"/>
Er iſt Hieroglyphe, wie die egyptiſchen Denk-<lb/>
maͤler. Traͤgt wohl mancher Obeliſt herr-<lb/>
liche Aufſchrift, die gafft der Gruͤbler an,<lb/>
hat’s vor Augen und kan’s nicht leſen, weil<lb/>
die Bedeutſamkeit der krauſen Zuͤg’ verloh-<lb/>
ren iſt. Kaͤm aber einer, der eine einzi-<lb/>
ge Zeil entziffern koͤnnt’, ſo waͤr’s keine<lb/>
Kunſt alle zu leſen.</p><lb/><p>Freund, ſo gemahnt michs iuſt mit dem<lb/>
phyſiognomiſchen Ausdruck der Beſeſſenheit.<lb/>
Wenn uns der heilige Lukas einen Kopf ei-<lb/>
nes notoriſch Beſeſſenen vorgezeichnet haͤtt,<lb/>
den die frommen Biſchoͤff und Kirchenvaͤter<lb/>
fleißig in Onyx und Karniol haͤtten eingra-<lb/>
ben laſſen, daß der Zahn der Zeit daran<lb/>
nicht nagen koͤnnen, ſo waͤr uns der wahr-<lb/>
lich! mehr werth als all’ Original zur Lip-<lb/>
pertſchen Daktyliothek. Denn ſo ließ ſich<lb/>
bald der genuine Ausdruck der Verteufe-<lb/>
lung heraus ſtudiren, und ſo koͤnnt’ man<lb/>
auch mit Gewißheit beſtimmen, ob die Gaß-<lb/>
neriſche von aͤchtem Schrot und Korn, oder<lb/>
ob ſie poſtiſch ſey; aber da fehlt’s eben,<lb/>
Bin ich daher der veſten Meinung, daß<lb/>
der eigentliche Sitz der Beſeſſenheit, aus<lb/>
den Geſichtszuͤgen ſo wenig heraus zu fin-<lb/>
den ſey, als der eigentliche Sitz der Seel’<lb/><fwplace="bottom"type="catch">aus</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[56/0062]
Er iſt Hieroglyphe, wie die egyptiſchen Denk-
maͤler. Traͤgt wohl mancher Obeliſt herr-
liche Aufſchrift, die gafft der Gruͤbler an,
hat’s vor Augen und kan’s nicht leſen, weil
die Bedeutſamkeit der krauſen Zuͤg’ verloh-
ren iſt. Kaͤm aber einer, der eine einzi-
ge Zeil entziffern koͤnnt’, ſo waͤr’s keine
Kunſt alle zu leſen.
Freund, ſo gemahnt michs iuſt mit dem
phyſiognomiſchen Ausdruck der Beſeſſenheit.
Wenn uns der heilige Lukas einen Kopf ei-
nes notoriſch Beſeſſenen vorgezeichnet haͤtt,
den die frommen Biſchoͤff und Kirchenvaͤter
fleißig in Onyx und Karniol haͤtten eingra-
ben laſſen, daß der Zahn der Zeit daran
nicht nagen koͤnnen, ſo waͤr uns der wahr-
lich! mehr werth als all’ Original zur Lip-
pertſchen Daktyliothek. Denn ſo ließ ſich
bald der genuine Ausdruck der Verteufe-
lung heraus ſtudiren, und ſo koͤnnt’ man
auch mit Gewißheit beſtimmen, ob die Gaß-
neriſche von aͤchtem Schrot und Korn, oder
ob ſie poſtiſch ſey; aber da fehlt’s eben,
Bin ich daher der veſten Meinung, daß
der eigentliche Sitz der Beſeſſenheit, aus
den Geſichtszuͤgen ſo wenig heraus zu fin-
den ſey, als der eigentliche Sitz der Seel’
aus
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/62>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.