chronische Krankheit ausgeartet; kan's Jh- nen daher kein Arzt recht machen, Sie mei- stern alles und wollen's besser wissen. Will Jhnen das philanthropinische Manövre des Wigands nicht behagen, weil Sie selbst nicht darnach sind gemodelt worden, so er- wägen Sie, daß wie in dreißig und mehr Jahren auf dieser Unterwelt manch Ding ein' andre Gestalt gewonnen hat: so auch das Edukationsgeschäft'. Viel hochgelahrte Männer, selbst die Berliner Bibliothekare, denen einer selten was zu Danke machen kann, ziehen alle Register, wenn sie ein phi- lanthropinisch Kyrie anstimmen, und pfeiffen dagegen den alten Schulschlendrian aus.
Soll mich nicht verdrießen, weil mir Jh- renthalber die Sach' nah am Herzen liegt, eine paßliche Stelle dieser einsichtigen Kunst- richter hier anzuziehen. "Denkt euch, sind ihre eignen Wort', einen Canarienvogel, dem man die Flügel gelähmt, die Augen aus- gebrannt, ihn an eine kleine Kette bevestiget und gewöhnet hat, sein nothdürftiges Futter und Getränk, in kleinen dazu eingerichteten Gefäßen von Zeit zu Zeit selbst herauf zu ziehen: so habt ihr das Bild eines gewöhn- lichen Menschen, in unsern gewöhnlichen
Schulen
E 5
chroniſche Krankheit ausgeartet; kan’s Jh- nen daher kein Arzt recht machen, Sie mei- ſtern alles und wollen’s beſſer wiſſen. Will Jhnen das philanthropiniſche Manoͤvre des Wigands nicht behagen, weil Sie ſelbſt nicht darnach ſind gemodelt worden, ſo er- waͤgen Sie, daß wie in dreißig und mehr Jahren auf dieſer Unterwelt manch Ding ein’ andre Geſtalt gewonnen hat: ſo auch das Edukationsgeſchaͤft’. Viel hochgelahrte Maͤnner, ſelbſt die Berliner Bibliothekare, denen einer ſelten was zu Danke machen kann, ziehen alle Regiſter, wenn ſie ein phi- lanthropiniſch Kyrie anſtimmen, und pfeiffen dagegen den alten Schulſchlendrian aus.
Soll mich nicht verdrießen, weil mir Jh- renthalber die Sach’ nah am Herzen liegt, eine paßliche Stelle dieſer einſichtigen Kunſt- richter hier anzuziehen. „Denkt euch, ſind ihre eignen Wort’, einen Canarienvogel, dem man die Fluͤgel gelaͤhmt, die Augen aus- gebrannt, ihn an eine kleine Kette beveſtiget und gewoͤhnet hat, ſein nothduͤrftiges Futter und Getraͤnk, in kleinen dazu eingerichteten Gefaͤßen von Zeit zu Zeit ſelbſt herauf zu ziehen: ſo habt ihr das Bild eines gewoͤhn- lichen Menſchen, in unſern gewoͤhnlichen
Schulen
E 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0079"n="73"/>
chroniſche Krankheit ausgeartet; kan’s Jh-<lb/>
nen daher kein Arzt recht machen, Sie mei-<lb/>ſtern alles und wollen’s beſſer wiſſen. Will<lb/>
Jhnen das philanthropiniſche Manoͤvre des<lb/>
Wigands nicht behagen, weil Sie ſelbſt<lb/>
nicht darnach ſind gemodelt worden, ſo er-<lb/>
waͤgen Sie, daß wie in dreißig und mehr<lb/>
Jahren auf dieſer Unterwelt manch Ding<lb/>
ein’ andre Geſtalt gewonnen hat: ſo auch<lb/>
das Edukationsgeſchaͤft’. Viel hochgelahrte<lb/>
Maͤnner, ſelbſt die Berliner Bibliothekare,<lb/>
denen einer ſelten was zu Danke machen<lb/>
kann, ziehen alle Regiſter, wenn ſie ein phi-<lb/>
lanthropiniſch Kyrie anſtimmen, und pfeiffen<lb/>
dagegen den alten Schulſchlendrian aus.</p><lb/><p>Soll mich nicht verdrießen, weil mir Jh-<lb/>
renthalber die Sach’ nah am Herzen liegt,<lb/>
eine paßliche Stelle dieſer einſichtigen Kunſt-<lb/>
richter hier anzuziehen. „Denkt euch, ſind<lb/>
ihre eignen Wort’, einen Canarienvogel,<lb/>
dem man die Fluͤgel gelaͤhmt, die Augen aus-<lb/>
gebrannt, ihn an eine kleine Kette beveſtiget<lb/>
und gewoͤhnet hat, ſein nothduͤrftiges Futter<lb/>
und Getraͤnk, in kleinen dazu eingerichteten<lb/>
Gefaͤßen von Zeit zu Zeit ſelbſt herauf zu<lb/>
ziehen: ſo habt ihr das Bild eines gewoͤhn-<lb/>
lichen Menſchen, in unſern gewoͤhnlichen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">E 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">Schulen</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[73/0079]
chroniſche Krankheit ausgeartet; kan’s Jh-
nen daher kein Arzt recht machen, Sie mei-
ſtern alles und wollen’s beſſer wiſſen. Will
Jhnen das philanthropiniſche Manoͤvre des
Wigands nicht behagen, weil Sie ſelbſt
nicht darnach ſind gemodelt worden, ſo er-
waͤgen Sie, daß wie in dreißig und mehr
Jahren auf dieſer Unterwelt manch Ding
ein’ andre Geſtalt gewonnen hat: ſo auch
das Edukationsgeſchaͤft’. Viel hochgelahrte
Maͤnner, ſelbſt die Berliner Bibliothekare,
denen einer ſelten was zu Danke machen
kann, ziehen alle Regiſter, wenn ſie ein phi-
lanthropiniſch Kyrie anſtimmen, und pfeiffen
dagegen den alten Schulſchlendrian aus.
Soll mich nicht verdrießen, weil mir Jh-
renthalber die Sach’ nah am Herzen liegt,
eine paßliche Stelle dieſer einſichtigen Kunſt-
richter hier anzuziehen. „Denkt euch, ſind
ihre eignen Wort’, einen Canarienvogel,
dem man die Fluͤgel gelaͤhmt, die Augen aus-
gebrannt, ihn an eine kleine Kette beveſtiget
und gewoͤhnet hat, ſein nothduͤrftiges Futter
und Getraͤnk, in kleinen dazu eingerichteten
Gefaͤßen von Zeit zu Zeit ſelbſt herauf zu
ziehen: ſo habt ihr das Bild eines gewoͤhn-
lichen Menſchen, in unſern gewoͤhnlichen
Schulen
E 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/79>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.