Schulen erzogen. Denkt euch einen andern Canarienvogel, den man auch an eine Ket- te bevestiget, aber seine Augen ungeblendet, seine Flügel ungelähmt gelassen, und ihn ge- wöhnt hat, seine Kette von Zeit zu Zeit zu verlängern, oder ganz abzulösen, um zwar nicht unter freiem Himmel; aber doch in seinem Wohnzimmer nach Gefallen herum zu fliegen, seine Kräfte zu brauchen, und dann aus angewohnter Neigung freiwillig in seinen Bauer zurück zu fliegen: so habt ihr das Bild eines nicht gewöhnlichen Men- schen, von philanthropischer Erziehung! Wessen Zustand ist nun besser?"
So viel für diesmal zur Apologie des Wigands, und der philanthropischen Eduka- tionsmethode. -- Doch eins nur noch bey- läuffig, weil eben die Red' war von Cana- rienvögeln. Hab' seit vielen Jahren auch eine Heck', ist mir aber nie gelungen, einen Vogel so abzurichten, daß er mehr Glieder an sein Kettlein hätt' ansetzen und es dadurch verlängern, oder selbiges gar nach Willkühr ab- und angürten lernen. Meint mein Phi- lipp, das sey unmöglich; ich aber sag, daß es gar wohl möglich ist dem, der's kann. Find' hier mystischen Sinn in den Worten:
giebt
Schulen erzogen. Denkt euch einen andern Canarienvogel, den man auch an eine Ket- te beveſtiget, aber ſeine Augen ungeblendet, ſeine Fluͤgel ungelaͤhmt gelaſſen, und ihn ge- woͤhnt hat, ſeine Kette von Zeit zu Zeit zu verlaͤngern, oder ganz abzuloͤſen, um zwar nicht unter freiem Himmel; aber doch in ſeinem Wohnzimmer nach Gefallen herum zu fliegen, ſeine Kraͤfte zu brauchen, und dann aus angewohnter Neigung freiwillig in ſeinen Bauer zuruͤck zu fliegen: ſo habt ihr das Bild eines nicht gewoͤhnlichen Men- ſchen, von philanthropiſcher Erziehung! Weſſen Zuſtand iſt nun beſſer?“
So viel fuͤr diesmal zur Apologie des Wigands, und der philanthropiſchen Eduka- tionsmethode. — Doch eins nur noch bey- laͤuffig, weil eben die Red’ war von Cana- rienvoͤgeln. Hab’ ſeit vielen Jahren auch eine Heck’, iſt mir aber nie gelungen, einen Vogel ſo abzurichten, daß er mehr Glieder an ſein Kettlein haͤtt’ anſetzen und es dadurch verlaͤngern, oder ſelbiges gar nach Willkuͤhr ab- und anguͤrten lernen. Meint mein Phi- lipp, das ſey unmoͤglich; ich aber ſag, daß es gar wohl moͤglich iſt dem, der’s kann. Find’ hier myſtiſchen Sinn in den Worten:
giebt
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Schulen erzogen. Denkt euch einen andern
Canarienvogel, den man auch an eine Ket-
te beveſtiget, aber ſeine Augen ungeblendet,
ſeine Fluͤgel ungelaͤhmt gelaſſen, und ihn ge-
woͤhnt hat, ſeine Kette von Zeit zu Zeit zu
verlaͤngern, oder ganz abzuloͤſen, um zwar
nicht unter freiem Himmel; aber doch in
ſeinem Wohnzimmer nach Gefallen herum
zu fliegen, ſeine Kraͤfte zu brauchen, und
dann aus angewohnter Neigung freiwillig
in ſeinen Bauer zuruͤck zu fliegen: ſo habt
ihr das Bild eines nicht gewoͤhnlichen Men-
ſchen, von philanthropiſcher Erziehung!
Weſſen Zuſtand iſt nun beſſer?“
So viel fuͤr diesmal zur Apologie des
Wigands, und der philanthropiſchen Eduka-
tionsmethode. — Doch eins nur noch bey-
laͤuffig, weil eben die Red’ war von Cana-
rienvoͤgeln. Hab’ ſeit vielen Jahren auch
eine Heck’, iſt mir aber nie gelungen, einen
Vogel ſo abzurichten, daß er mehr Glieder
an ſein Kettlein haͤtt’ anſetzen und es dadurch
verlaͤngern, oder ſelbiges gar nach Willkuͤhr
ab- und anguͤrten lernen. Meint mein Phi-
lipp, das ſey unmoͤglich; ich aber ſag, daß
es gar wohl moͤglich iſt dem, der’s kann.
Find’ hier myſtiſchen Sinn in den Worten:
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/80>, abgerufen am 16.02.2025.
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