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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779.

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Zunächst rückte der Rektor Brunold den
Stuhl, trat auf und hielt einen gelehrten
lateinischen Sermon: de scientia physio-
gnomica antediluviana,
worinnen er eine
neue Meinung von dem Zeichen an Cain
vorbrachte, und bewieß, daß alles Gezän-
ke der Ausleger über diese Stelle, durch
seine physiognomische Erklärung wegfallen
müßte. Loths Engel gaben ihm Gelegen-
heit über die Engelphysiognomie viel Neues
und Unterhaltendes zu sagen. Er behau-
ptete als einen Grundsatz, sie sey keines-
weges willkührlich, sondern bestimme sich
nach dem innren Engelcharakter eben so ge-
nau wie die menschliche. Weil sonst Loths
Engel sehr übel würden gethan haben, in
einer so reizenden Gestalt zu erscheinen, daß
dadurch die Begierden der Einwohner zu
Sodom wären entzündet worden. Doch
stünd es ihnen frey ihre Gestalt auf man-
cherley Art zu modificiren: denn der Teu-
fel könne sich ia zuweilen in einen Engel des
Lichtes verstellen. Wiewohl es gewisse nicht
zu verkennende Abzeichen gäbe, die dem
Scharfblick des Physiognomen bey einer
Engelerscheinung nicht entgehen könnten,
und mithin würde der Satanas einen ächten

Sohn

Zunaͤchſt ruͤckte der Rektor Brunold den
Stuhl, trat auf und hielt einen gelehrten
lateiniſchen Sermon: de ſcientia phyſio-
gnomica antediluviana,
worinnen er eine
neue Meinung von dem Zeichen an Cain
vorbrachte, und bewieß, daß alles Gezaͤn-
ke der Ausleger uͤber dieſe Stelle, durch
ſeine phyſiognomiſche Erklaͤrung wegfallen
muͤßte. Loths Engel gaben ihm Gelegen-
heit uͤber die Engelphyſiognomie viel Neues
und Unterhaltendes zu ſagen. Er behau-
ptete als einen Grundſatz, ſie ſey keines-
weges willkuͤhrlich, ſondern beſtimme ſich
nach dem innren Engelcharakter eben ſo ge-
nau wie die menſchliche. Weil ſonſt Loths
Engel ſehr uͤbel wuͤrden gethan haben, in
einer ſo reizenden Geſtalt zu erſcheinen, daß
dadurch die Begierden der Einwohner zu
Sodom waͤren entzuͤndet worden. Doch
ſtuͤnd es ihnen frey ihre Geſtalt auf man-
cherley Art zu modificiren: denn der Teu-
fel koͤnne ſich ia zuweilen in einen Engel des
Lichtes verſtellen. Wiewohl es gewiſſe nicht
zu verkennende Abzeichen gaͤbe, die dem
Scharfblick des Phyſiognomen bey einer
Engelerſcheinung nicht entgehen koͤnnten,
und mithin wuͤrde der Satanas einen aͤchten

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[84/0090] Zunaͤchſt ruͤckte der Rektor Brunold den Stuhl, trat auf und hielt einen gelehrten lateiniſchen Sermon: de ſcientia phyſio- gnomica antediluviana, worinnen er eine neue Meinung von dem Zeichen an Cain vorbrachte, und bewieß, daß alles Gezaͤn- ke der Ausleger uͤber dieſe Stelle, durch ſeine phyſiognomiſche Erklaͤrung wegfallen muͤßte. Loths Engel gaben ihm Gelegen- heit uͤber die Engelphyſiognomie viel Neues und Unterhaltendes zu ſagen. Er behau- ptete als einen Grundſatz, ſie ſey keines- weges willkuͤhrlich, ſondern beſtimme ſich nach dem innren Engelcharakter eben ſo ge- nau wie die menſchliche. Weil ſonſt Loths Engel ſehr uͤbel wuͤrden gethan haben, in einer ſo reizenden Geſtalt zu erſcheinen, daß dadurch die Begierden der Einwohner zu Sodom waͤren entzuͤndet worden. Doch ſtuͤnd es ihnen frey ihre Geſtalt auf man- cherley Art zu modificiren: denn der Teu- fel koͤnne ſich ia zuweilen in einen Engel des Lichtes verſtellen. Wiewohl es gewiſſe nicht zu verkennende Abzeichen gaͤbe, die dem Scharfblick des Phyſiognomen bey einer Engelerſcheinung nicht entgehen koͤnnten, und mithin wuͤrde der Satanas einen aͤchten Sohn

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/90>, abgerufen am 21.11.2024.