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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778.

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den, die nicht ans Tageslicht kommen;
denn nicht jeder läßt Fragmente drucken.
Wer vom der Hand der Erfahrung geleitet,
die Menschen nach dem Maasstab der Ver-
nunft abmißt, kann unmöglich mit dem
übereinstimmen, der das bloße Augenmaß
zur Regel braucht; am wenigsten wenn
nicht einmal der Verstand, sondern das
Herz dem Auge das tertium comparationis
vorschiebt. Welcher Menschenspäher kann
mit Lavatern Schritt halten, wenn der gut-
herzige Mann versichert, daß kein Mensch
in der Welt sich vor seiner Gesichtsdeutung
zu fürchten habe? Was ist das anders ge-
sagt, als daß er von allen nach der Liebe,
und nicht nach der Strenge die die Wahr-
heit fordert, urtheilen, Narben und Flecken
übersehen, dagegen jeden günstigen Zug
ausheben, durch möglichst günstige Deu-
tung auffrischen, und so viel an ihm sey,
zum Gegenstand der Menschenliebe qualifi-
ciren wolle."

Dar-

den, die nicht ans Tageslicht kommen;
denn nicht jeder laͤßt Fragmente drucken.
Wer vom der Hand der Erfahrung geleitet,
die Menſchen nach dem Maasſtab der Ver-
nunft abmißt, kann unmoͤglich mit dem
uͤbereinſtimmen, der das bloße Augenmaß
zur Regel braucht; am wenigſten wenn
nicht einmal der Verſtand, ſondern das
Herz dem Auge das tertium comparationis
vorſchiebt. Welcher Menſchenſpaͤher kann
mit Lavatern Schritt halten, wenn der gut-
herzige Mann verſichert, daß kein Menſch
in der Welt ſich vor ſeiner Geſichtsdeutung
zu fuͤrchten habe? Was iſt das anders ge-
ſagt, als daß er von allen nach der Liebe,
und nicht nach der Strenge die die Wahr-
heit fordert, urtheilen, Narben und Flecken
uͤberſehen, dagegen jeden guͤnſtigen Zug
ausheben, durch moͤglichſt guͤnſtige Deu-
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zum Gegenſtand der Menſchenliebe qualifi-
ciren wolle.„

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[205/0205] den, die nicht ans Tageslicht kommen; denn nicht jeder laͤßt Fragmente drucken. Wer vom der Hand der Erfahrung geleitet, die Menſchen nach dem Maasſtab der Ver- nunft abmißt, kann unmoͤglich mit dem uͤbereinſtimmen, der das bloße Augenmaß zur Regel braucht; am wenigſten wenn nicht einmal der Verſtand, ſondern das Herz dem Auge das tertium comparationis vorſchiebt. Welcher Menſchenſpaͤher kann mit Lavatern Schritt halten, wenn der gut- herzige Mann verſichert, daß kein Menſch in der Welt ſich vor ſeiner Geſichtsdeutung zu fuͤrchten habe? Was iſt das anders ge- ſagt, als daß er von allen nach der Liebe, und nicht nach der Strenge die die Wahr- heit fordert, urtheilen, Narben und Flecken uͤberſehen, dagegen jeden guͤnſtigen Zug ausheben, durch moͤglichſt guͤnſtige Deu- tung auffriſchen, und ſo viel an ihm ſey, zum Gegenſtand der Menſchenliebe qualifi- ciren wolle.„ Dar-

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/205>, abgerufen am 21.11.2024.