"Wer Menschen will kennen lernen, der verlangt zuförderst zu wissen, was sie in Beziehung auf ihn selbst sind, und was er sich von ihnen zu versehen habe, in wiefern sie ihm nützen oder schaden können; klaßifi- cirt sie erst nach den Eigenschaften des Her- zens, und nachher nach denen des Geistes. Jemands moralischen Charakter ihm gerade zu und allein aus dem Gesicht lesen wollen, ist leere Einbildung und Vermessenheit. Die Gesichtsform liefert ihren Quotienten von Charakterzügen; aber der Theil ist niemals das Ganze. Die Physiognomik ruhet nicht auf einem, sondern auf zwey Erkenntniß- gründen: nemlich Gesichtszügen und That- sachen, das sind die beyden starken Arme, die zusammen den Menschen ganz umspan- nen. Einer allein ist zu unkräftig dazu, ergreift zwar, aber umspannt nicht."
Ja Herr, wenn Sie da hinaus wollen, so kanns an dem einen Arm der Thatsachen
gnug
O 5
„Wer Menſchen will kennen lernen, der verlangt zufoͤrderſt zu wiſſen, was ſie in Beziehung auf ihn ſelbſt ſind, und was er ſich von ihnen zu verſehen habe, in wiefern ſie ihm nuͤtzen oder ſchaden koͤnnen; klaßifi- cirt ſie erſt nach den Eigenſchaften des Her- zens, und nachher nach denen des Geiſtes. Jemands moraliſchen Charakter ihm gerade zu und allein aus dem Geſicht leſen wollen, iſt leere Einbildung und Vermeſſenheit. Die Geſichtsform liefert ihren Quotienten von Charakterzuͤgen; aber der Theil iſt niemals das Ganze. Die Phyſiognomik ruhet nicht auf einem, ſondern auf zwey Erkenntniß- gruͤnden: nemlich Geſichtszuͤgen und That- ſachen, das ſind die beyden ſtarken Arme, die zuſammen den Menſchen ganz umſpan- nen. Einer allein iſt zu unkraͤftig dazu, ergreift zwar, aber umſpannt nicht.„
Ja Herr, wenn Sie da hinaus wollen, ſo kanns an dem einen Arm der Thatſachen
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„Wer Menſchen will kennen lernen, der
verlangt zufoͤrderſt zu wiſſen, was ſie in
Beziehung auf ihn ſelbſt ſind, und was er
ſich von ihnen zu verſehen habe, in wiefern
ſie ihm nuͤtzen oder ſchaden koͤnnen; klaßifi-
cirt ſie erſt nach den Eigenſchaften des Her-
zens, und nachher nach denen des Geiſtes.
Jemands moraliſchen Charakter ihm gerade
zu und allein aus dem Geſicht leſen wollen,
iſt leere Einbildung und Vermeſſenheit. Die
Geſichtsform liefert ihren Quotienten von
Charakterzuͤgen; aber der Theil iſt niemals
das Ganze. Die Phyſiognomik ruhet nicht
auf einem, ſondern auf zwey Erkenntniß-
gruͤnden: nemlich Geſichtszuͤgen und That-
ſachen, das ſind die beyden ſtarken Arme,
die zuſammen den Menſchen ganz umſpan-
nen. Einer allein iſt zu unkraͤftig dazu,
ergreift zwar, aber umſpannt nicht.„
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/217>, abgerufen am 16.02.2025.
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