sorium desselben. Darum sah iener phy- siognomische Geistliche einem Unbekannten, der mit guten Empfehlungsschreiben, die seine Frömmigkeit hochpriesen, in sein Zim- mer trat, nicht nach dem Daumen, sondern nach dem Kleide, und bewillkommet' ihn gar säuberlich mit den Worten: ihr seyd kein Christ, Ursache des: weil ihr so schwei- nisch ausseht. Hätt ihm der Fremde im- mer den Daumen hinhalten und sagen mö- gen: Herr ich trage mein Christenthum im Daumen und nicht im Rocke, demungeach- tet würde der Physiognomist dem Rocke mehr geglaubt haben als dem Daumen. Es ist und bleibt mir also goldlautere Wahr- heit: ein fein modisch Kleid gilt in der phy- siognomischen Welt mehr als ein Empfeh- lungsschreiben, mehr als ein Testimonium, ein Reisepaß, ein Diplom, ein Patent, ein Adelsbrief, oder ein besiegelter und be- schworner Stammbaum, versteht sich von
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ſorium deſſelben. Darum ſah iener phy- ſiognomiſche Geiſtliche einem Unbekannten, der mit guten Empfehlungsſchreiben, die ſeine Froͤmmigkeit hochprieſen, in ſein Zim- mer trat, nicht nach dem Daumen, ſondern nach dem Kleide, und bewillkommet’ ihn gar ſaͤuberlich mit den Worten: ihr ſeyd kein Chriſt, Urſache des: weil ihr ſo ſchwei- niſch ausſeht. Haͤtt ihm der Fremde im- mer den Daumen hinhalten und ſagen moͤ- gen: Herr ich trage mein Chriſtenthum im Daumen und nicht im Rocke, demungeach- tet wuͤrde der Phyſiognomiſt dem Rocke mehr geglaubt haben als dem Daumen. Es iſt und bleibt mir alſo goldlautere Wahr- heit: ein fein modiſch Kleid gilt in der phy- ſiognomiſchen Welt mehr als ein Empfeh- lungsſchreiben, mehr als ein Teſtimonium, ein Reiſepaß, ein Diplom, ein Patent, ein Adelsbrief, oder ein beſiegelter und be- ſchworner Stammbaum, verſteht ſich von
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ſorium deſſelben. Darum ſah iener phy-
ſiognomiſche Geiſtliche einem Unbekannten,
der mit guten Empfehlungsſchreiben, die
ſeine Froͤmmigkeit hochprieſen, in ſein Zim-
mer trat, nicht nach dem Daumen, ſondern
nach dem Kleide, und bewillkommet’ ihn
gar ſaͤuberlich mit den Worten: ihr ſeyd
kein Chriſt, Urſache des: weil ihr ſo ſchwei-
niſch ausſeht. Haͤtt ihm der Fremde im-
mer den Daumen hinhalten und ſagen moͤ-
gen: Herr ich trage mein Chriſtenthum im
Daumen und nicht im Rocke, demungeach-
tet wuͤrde der Phyſiognomiſt dem Rocke
mehr geglaubt haben als dem Daumen.
Es iſt und bleibt mir alſo goldlautere Wahr-
heit: ein fein modiſch Kleid gilt in der phy-
ſiognomiſchen Welt mehr als ein Empfeh-
lungsſchreiben, mehr als ein Teſtimonium,
ein Reiſepaß, ein Diplom, ein Patent,
ein Adelsbrief, oder ein beſiegelter und be-
ſchworner Stammbaum, verſteht ſich von
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/177>, abgerufen am 16.07.2024.
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