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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779.

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thete mit keinem Gedanken, daß sie durch
fremde Schuld, den Fluch der Ueppichkeit
tragen müsse, der ihr so unbekannt als das
Laster selbst war. -- Sie starb; aber ihr
würdiger Ehekonsort, büßte seine Jugend-
sünden mit dem Verlust eines Sprachorgans
ab, lebt als ein rechtlicher unbescholtener
Mann, und intonirt das integer vitae aus
hohler Kehle zwar; aber mit so freier unbe-
fangener Stirn, als wenns für ihn ge-
macht wär.

Um diese Zeit ließ L. die Physiognomik
aufleben, und ich war einer seiner ersten
Jünger in Deutschland, war fest entschlos-
sen seinen Fußtapfen treulich zu folgen, und
fand mich genöthiget, ihn auf dem ersten
Scheidewege zu verlassen. Denn ich fühlte
gar bald, daß diese Methode mehr auf
windige Spekulation, als auf Frucht und
Nutzen in der Lebenspraktik calculirt sey,
welches doch beym Studium der Menschheit

der
C 4

thete mit keinem Gedanken, daß ſie durch
fremde Schuld, den Fluch der Ueppichkeit
tragen muͤſſe, der ihr ſo unbekannt als das
Laſter ſelbſt war. — Sie ſtarb; aber ihr
wuͤrdiger Ehekonſort, buͤßte ſeine Jugend-
ſuͤnden mit dem Verluſt eines Sprachorgans
ab, lebt als ein rechtlicher unbeſcholtener
Mann, und intonirt das integer vitae aus
hohler Kehle zwar; aber mit ſo freier unbe-
fangener Stirn, als wenns fuͤr ihn ge-
macht waͤr.

Um dieſe Zeit ließ L. die Phyſiognomik
aufleben, und ich war einer ſeiner erſten
Juͤnger in Deutſchland, war feſt entſchloſ-
ſen ſeinen Fußtapfen treulich zu folgen, und
fand mich genoͤthiget, ihn auf dem erſten
Scheidewege zu verlaſſen. Denn ich fuͤhlte
gar bald, daß dieſe Methode mehr auf
windige Spekulation, als auf Frucht und
Nutzen in der Lebenspraktik calculirt ſey,
welches doch beym Studium der Menſchheit

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[39/0039] thete mit keinem Gedanken, daß ſie durch fremde Schuld, den Fluch der Ueppichkeit tragen muͤſſe, der ihr ſo unbekannt als das Laſter ſelbſt war. — Sie ſtarb; aber ihr wuͤrdiger Ehekonſort, buͤßte ſeine Jugend- ſuͤnden mit dem Verluſt eines Sprachorgans ab, lebt als ein rechtlicher unbeſcholtener Mann, und intonirt das integer vitae aus hohler Kehle zwar; aber mit ſo freier unbe- fangener Stirn, als wenns fuͤr ihn ge- macht waͤr. Um dieſe Zeit ließ L. die Phyſiognomik aufleben, und ich war einer ſeiner erſten Juͤnger in Deutſchland, war feſt entſchloſ- ſen ſeinen Fußtapfen treulich zu folgen, und fand mich genoͤthiget, ihn auf dem erſten Scheidewege zu verlaſſen. Denn ich fuͤhlte gar bald, daß dieſe Methode mehr auf windige Spekulation, als auf Frucht und Nutzen in der Lebenspraktik calculirt ſey, welches doch beym Studium der Menſchheit der C 4

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/39>, abgerufen am 03.05.2024.