fenbar keiner andern als einer physiognomi- schen Erklärung fähig. Ein ieder dieser Ausleger weiß seine Meinung so plausibel vorzutragen, daß man denken sollt', der, dem man zuhört, hab den wahren Sinn er- hascht; sezt sich aber Einer hin und fängt an die gelehrten Meinungen mit einander zu vergleichen: so wird er daraus eben so klug, als Einer der nicht weiß, daß eine Erklärung des hohen Liedes in der Welt ist. Genau so und nicht anders, Freund, ver- hält sichs mit Jhrer Methode zu physiogno- misiren und der Lavaterschen. Jede vor sich betrachtet, scheint die Wahrheit auf ihrer Seite zu haben, und ächt und aufrichtig zu seyn. Fang ich aber an zu vergleichen, so werd ich so ungewiß, daß wenig dran fehlt, mich gegen die ganze Kunst zweifelmüthig zu machen. -- So wirft auch immer der iüngere Meister die Lehr des Aeltern übern Haufen. Denn gleichwie der berühmte Dr.
Semler
F 3
fenbar keiner andern als einer phyſiognomi- ſchen Erklaͤrung faͤhig. Ein ieder dieſer Ausleger weiß ſeine Meinung ſo plauſibel vorzutragen, daß man denken ſollt’, der, dem man zuhoͤrt, hab den wahren Sinn er- haſcht; ſezt ſich aber Einer hin und faͤngt an die gelehrten Meinungen mit einander zu vergleichen: ſo wird er daraus eben ſo klug, als Einer der nicht weiß, daß eine Erklaͤrung des hohen Liedes in der Welt iſt. Genau ſo und nicht anders, Freund, ver- haͤlt ſichs mit Jhrer Methode zu phyſiogno- miſiren und der Lavaterſchen. Jede vor ſich betrachtet, ſcheint die Wahrheit auf ihrer Seite zu haben, und aͤcht und aufrichtig zu ſeyn. Fang ich aber an zu vergleichen, ſo werd ich ſo ungewiß, daß wenig dran fehlt, mich gegen die ganze Kunſt zweifelmuͤthig zu machen. — So wirft auch immer der iuͤngere Meiſter die Lehr des Aeltern uͤbern Haufen. Denn gleichwie der beruͤhmte Dr.
Semler
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[85/0085]
fenbar keiner andern als einer phyſiognomi-
ſchen Erklaͤrung faͤhig. Ein ieder dieſer
Ausleger weiß ſeine Meinung ſo plauſibel
vorzutragen, daß man denken ſollt’, der,
dem man zuhoͤrt, hab den wahren Sinn er-
haſcht; ſezt ſich aber Einer hin und faͤngt
an die gelehrten Meinungen mit einander
zu vergleichen: ſo wird er daraus eben ſo
klug, als Einer der nicht weiß, daß eine
Erklaͤrung des hohen Liedes in der Welt iſt.
Genau ſo und nicht anders, Freund, ver-
haͤlt ſichs mit Jhrer Methode zu phyſiogno-
miſiren und der Lavaterſchen. Jede vor ſich
betrachtet, ſcheint die Wahrheit auf ihrer
Seite zu haben, und aͤcht und aufrichtig zu
ſeyn. Fang ich aber an zu vergleichen, ſo
werd ich ſo ungewiß, daß wenig dran fehlt,
mich gegen die ganze Kunſt zweifelmuͤthig
zu machen. — So wirft auch immer der
iuͤngere Meiſter die Lehr des Aeltern uͤbern
Haufen. Denn gleichwie der beruͤhmte Dr.
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/85>, abgerufen am 16.02.2025.
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