Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Das sprach sie mit so vieler Kaltblütig-
keit, mit so vieler Ruh im Auge, daß ich
ihr daraus nichts vom Prädilektion abmer-
ken konnte. Hm! dacht ich, sollte wohl
gar der Selenit hier im Hinterhalt liegen?
Wollen doch 'nmal diese Saite anschlagen,
um zu hören wie der ganze Freyerakkord zu-
sammen stimmt. Jch replizirte ganz gleich-
müthig: die Mutter Natur hat Jhnen, seh
ich, die Schlußkunst so gut gelehrt, als
wenn Vater Aristoteles Jhnen sein Organon
geliehen hätte. Wenn ähnliche Grundzüge
ähnliche Urtheile hervorbringen: so lassen
sich auch von mehrern Personen, auf die
einerley physiognomisch Urtheil paßt, über-
einstimmende Grundzüge vermuthen. Ganz
recht! Dem ungeachtet kan ich Jhnen hier
einen Einwurf machen, der diesen Vernunft-
schluß klar widerlegt. Jch befind', daß die
Epikrisis über Sir Wests Profil genau auf
den iungen Prediger allhier paßt. Das

Ganze

Das ſprach ſie mit ſo vieler Kaltbluͤtig-
keit, mit ſo vieler Ruh im Auge, daß ich
ihr daraus nichts vom Praͤdilektion abmer-
ken konnte. Hm! dacht ich, ſollte wohl
gar der Selenit hier im Hinterhalt liegen?
Wollen doch ’nmal dieſe Saite anſchlagen,
um zu hoͤren wie der ganze Freyerakkord zu-
ſammen ſtimmt. Jch replizirte ganz gleich-
muͤthig: die Mutter Natur hat Jhnen, ſeh
ich, die Schlußkunſt ſo gut gelehrt, als
wenn Vater Ariſtoteles Jhnen ſein Organon
geliehen haͤtte. Wenn aͤhnliche Grundzuͤge
aͤhnliche Urtheile hervorbringen: ſo laſſen
ſich auch von mehrern Perſonen, auf die
einerley phyſiognomiſch Urtheil paßt, uͤber-
einſtimmende Grundzuͤge vermuthen. Ganz
recht! Dem ungeachtet kan ich Jhnen hier
einen Einwurf machen, der dieſen Vernunft-
ſchluß klar widerlegt. Jch befind’, daß die
Epikriſis uͤber Sir Weſts Profil genau auf
den iungen Prediger allhier paßt. Das

Ganze
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0218" n="210"/>
          <p>Das &#x017F;prach &#x017F;ie mit &#x017F;o vieler Kaltblu&#x0364;tig-<lb/>
keit, mit &#x017F;o vieler Ruh im Auge, daß ich<lb/>
ihr daraus nichts vom Pra&#x0364;dilektion abmer-<lb/>
ken konnte. Hm! dacht ich, &#x017F;ollte wohl<lb/>
gar der Selenit hier im Hinterhalt liegen?<lb/>
Wollen doch &#x2019;nmal die&#x017F;e Saite an&#x017F;chlagen,<lb/>
um zu ho&#x0364;ren wie der ganze Freyerakkord zu-<lb/>
&#x017F;ammen &#x017F;timmt. Jch replizirte ganz gleich-<lb/>
mu&#x0364;thig: die Mutter Natur hat Jhnen, &#x017F;eh<lb/>
ich, die Schlußkun&#x017F;t &#x017F;o gut gelehrt, als<lb/>
wenn Vater Ari&#x017F;toteles Jhnen &#x017F;ein Organon<lb/>
geliehen ha&#x0364;tte. Wenn a&#x0364;hnliche Grundzu&#x0364;ge<lb/>
a&#x0364;hnliche Urtheile hervorbringen: &#x017F;o la&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ich auch von mehrern Per&#x017F;onen, auf die<lb/>
einerley phy&#x017F;iognomi&#x017F;ch Urtheil paßt, u&#x0364;ber-<lb/>
ein&#x017F;timmende Grundzu&#x0364;ge vermuthen. Ganz<lb/>
recht! Dem ungeachtet kan ich Jhnen hier<lb/>
einen Einwurf machen, der die&#x017F;en Vernunft-<lb/>
&#x017F;chluß klar widerlegt. Jch befind&#x2019;, daß die<lb/>
Epikri&#x017F;is u&#x0364;ber Sir We&#x017F;ts Profil genau auf<lb/>
den iungen Prediger allhier paßt. Das<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ganze</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0218] Das ſprach ſie mit ſo vieler Kaltbluͤtig- keit, mit ſo vieler Ruh im Auge, daß ich ihr daraus nichts vom Praͤdilektion abmer- ken konnte. Hm! dacht ich, ſollte wohl gar der Selenit hier im Hinterhalt liegen? Wollen doch ’nmal dieſe Saite anſchlagen, um zu hoͤren wie der ganze Freyerakkord zu- ſammen ſtimmt. Jch replizirte ganz gleich- muͤthig: die Mutter Natur hat Jhnen, ſeh ich, die Schlußkunſt ſo gut gelehrt, als wenn Vater Ariſtoteles Jhnen ſein Organon geliehen haͤtte. Wenn aͤhnliche Grundzuͤge aͤhnliche Urtheile hervorbringen: ſo laſſen ſich auch von mehrern Perſonen, auf die einerley phyſiognomiſch Urtheil paßt, uͤber- einſtimmende Grundzuͤge vermuthen. Ganz recht! Dem ungeachtet kan ich Jhnen hier einen Einwurf machen, der dieſen Vernunft- ſchluß klar widerlegt. Jch befind’, daß die Epikriſis uͤber Sir Weſts Profil genau auf den iungen Prediger allhier paßt. Das Ganze

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/218
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/218>, abgerufen am 22.12.2024.